Chuzpe
parlamentarisches Pendant Sozialminister nannte und nicht mehr ihn, der doch des Kaisers Ressortleiter für soziale Fragen war? Bronstein fühlte, wie sein Interesse geweckt war. Er trat zu dem Jungen hin, streckte ihm die geforderten Kreuzer entgegen und nahm ein Exemplar des Blattes an sich. Bei seinen Eltern würde er nachlesen, was es mit dem Arbeitslosengeld auf sich hatte.
Wieder ging es am Parlament vorbei, wo immer noch tumultartige Szenen zu sehen waren. Etliche Demonstranten forderten Brot, andere Frieden und wiederum andere den Sozialismus. Auf der anderen Straßenseite sah Bronstein den rundlichen Herrn stehen, den ihm Kisch zu Mittag als Franz Werfel vorgestellt hatte. Der schwenkte hektisch seinen Hut und schrie nachLeibeskräften: „Nieder mit Habsburg!“ Bronstein trat an ihn heran: „Grüß Sie, Herr Werfel“, sagte er jovial. Der Dichter erstarb mitten im Satz, sodass ein gespenstisches „Nieder mit Ha“ durch die Luft schwebte. Werfel war die Situation sichtlich peinlich. „be die Ehre, Herr Inspektor“, vollendete er den Satz schließlich. „Weitermachen!“, forderte ihn Bronstein mit gespielter militärischer Strenge auf und zwinkerte dabei mit dem Auge. Bronstein war schon beinahe beim Palais Epstein, als Werfel seine Losung „Nieder mit Habsburg!“ wieder aufnahm.
Mittlerweile hatte die Nacht den Tag besiegt. Ob der allgemeinen Versorgungsengpässe brannten keinerlei Straßenlaternen, sodass allein die Feuer, die einzelne Demonstranten direkt auf der Straße entfacht hatten, ein wenig Helligkeit abgaben, welche die Szenerie in gespenstisches Licht tauchte. Bronstein beschleunigte seine Schritte und sah zu, dass er zur Oper kam.
Vorbei am Café Museum, überquerte er den Karlsplatz, wobei er seine Hände tief in seinen Taschen vergrub. Er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen, die Haut reagierte auf die frostige Luft. Bronstein suchte Schutz vor dem pfeifenden Wind und schlich knapp an den Häusern entlang. Mit einem letzten Energieanfall schaffte er es in die Gasse seiner Eltern, und er war rechtschaffen froh, als er das Haustor hinter sich schließen konnte. Endlich würde ihm wieder wärmer werden.
Seiner Mutter war die große Freude anzusehen, als er in den Raum stellte, er könnte heute bei ihr übernachten, und sie versprach ihm, zur Feier des Tages das beste Abendessen auf den Tisch zu zaubern, das unter den gegebenen Umständen zu machen sei. Und als sie sodann des Huhnes ansichtig wurde, da rollten ihr unweigerlich Tränen der Rührung über die Wangen.
„Wie geht es dem Herrn Papa?“
„Unverändert, mein Bub. Er hat praktisch den ganzen Nachmittag geschlafen. Nur gegen drei ist er einmal kurz aufgewachtund wollte etwas zu trinken, weil er so einen Durst gehabt hat. Ich hab bei der Gelegenheit wieder Fieber gemessen, und es ist leider immer noch vermaledeit hoch.“
„War der Doktor noch einmal da?“
„Ach was! Die kümmern sich ja nicht um unsereinen. Und außerdem kannst du sie eh nicht derzahlen. Des is ja obszön, was die für eine Visite verlangen.“
Bronstein wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Wenn’s morgen nicht besser ist, sollten wir ihn vielleicht ins Spital bringen“, sagte er dann.
„Geht’s dir noch gut?“, brauste die Mutter auf. „Willst, dass ihn die Kurpfuscher endgültig unter die Erde bringen? Im Spital holt er sich erst recht den Tod. Nein, nein, bei mir ist er gut aufgehoben. Jedenfalls besser als bei diesen Quacksalbern.“
Bronstein verstummte. Er setzte sich an den Küchentisch und schlug die erworbene „Wiener Zeitung“ auf, um der Sache mit dem Arbeitslosengeld auf den Grund zu gehen. Der dazugehörige Artikel berichtete von einem Beschluss des Staatsrates vom Vortag, wonach ab sofort jeder Staatsbürger, der ohne Arbeit war, vom Staat eine bestimmte Summe Geldes als Unterstützung erhalten sollte. Das war in der Tat eine revolutionäre Idee, denn bislang waren Leute, die aus welchem Grund auch immer ins Elend gekommen waren, von privater Fürsorge abhängig. Zudem waren eine staatliche Arbeitsvermittlung gegründet und lokale Kommissionen gebildet worden, welche den Arbeitsuchenden Arbeit verschaffen sollten. Hanusch war offensichtlich im Gegensatz zu seinem blasierten Pendant in der kaiserlichen Regierung ein Mann, der sein Handwerk verstand. Und er war sichtlich gewillt, Nägel mit Köpfen zu machen, denn er kündigte an, die tägliche Arbeitszeit ehebaldigst auf acht Stunden reduzieren zu wollen.
Weitere Kostenlose Bücher