Chuzpe
Adelsstand war der Militärbehörde umso leichter gefallen, als man bei einem Sechzigjährigen ziemlich sicher sein konnte, dass er keine Nachkommen mehr zeugen würde. Und das Adelsprädikat selbst war ja auch ein Witz. „Von Grabensprung“. An der Front hatte diese Bezeichnung rasch die Runde gemacht. An einem der ersten Kriegstage war es der Kompanie gelungen, ein russisches Dorf einzunehmen, das allein durch einen kleinen Graben gesichert gewesen war, welchen die österreichischen Soldaten spielend überwunden hatten. Dieser einzige Triumph in der Karriere des Obersten Spitzer musste nun für seinen Adelstitel herhalten. Nach allgemeiner Meinung war das bezeichnend für den Zustand der k. u. k. Armee. Jedenfalls hatte Bronstein nach dem Jänner 1916 nichts mehr von Spitzer gehört, und es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass sich die Wege des ehemaligen Kommandeurs und seine eigenen auf diese Weise noch einmal kreuzten.
Doch Bronstein verspürte nicht die geringste Lust, dem alten Widerling aus der Patsche zu helfen. Als Polizist musste man ja unbefangen sein, und so war es ein Leichtes, diesen Fall an Pokorny abzutreten. Sollte der sich mit der greinenden Gattin abgeben, er würde sich lieber um den Mädchenmörder kümmern, denn Spitzer, so machte Bronstein aus seinem Herzen keine Mördergrube, den konnte ruhig der Teufel geholt haben.
Die Tür ging auf, und Pokorny grüßte seinen Chef mit heiterer Miene. Im ausgestreckten rechten Arm hielt er ein gerupftes Huhn. „Mission erfüllt!“, schmetterte Pokorny mit breitem Grinsen.
„Respekt, Pokorny, Respekt!“, entgegnete Bronstein anerkennend.
„Ich weiß“, lenkte nun Pokorny ein, „einen Schönheitspreis tät des Viecherl ned g’winnen, aber für deine Zwecke reicht’s allemal.“
„Des kannst laut sagen. Du rettest meinem alten Herrn das Leben. Weißt was, Pokorny, des gibt einen Tag Sonderurlaub. Ich bewillig dir des. Nur ned gleich“, schränkte Bronstein sofort ein, „weil morgen musst du noch diesem Fall da nachgehen.“
Mit diesen Worten warf Bronstein den Spitzer-Akt auf Pokornys Schreibtisch, dem dadurch erst auffiel, dass in der Mitte der beiden Schreibtische die Kerzen des Adventkranzes brannten. „Wieso nachher des?“
„Weil es da um meinen ehemaligen Kommandanten an der Front geht. Und wir wollen uns doch nicht Befangenheit vorwerfen lassen.“
„Na. Der Kranz.“
„Ah so, na weil die Armleuchter vom E-Werk schon wieder den Strom abg’stellt haben.“
„Ah darum gehen keine Tramways. Na servas, des wird wieder a Hatscher.“
Pokornys Aussage machte Bronstein erst bewusst, wie weit er heute durch die Kälte würde nach Hause stapfen müssen. Vom Präsidium auf die Wieden waren es sicher mehr als drei Kilometer. Und von dort nach Dornbach fraglos noch einmal fünf bis sechs. Er würde erfroren sein, ehe er seine kalte Wohnung erreicht haben würde. Unwillkürlich fiel ihm Napoleons Rückzug aus Russland ein.
Auch für Pokorny würde der Heimweg alles andere als erfreulich sein, denn der wohnte in der Quellenstraße in Favoriten, vom Präsidium auch gut und gern fünf Kilometer entfernt.
„Weißt was“, sagte Bronstein daher, „Dienstschluss. Immerhin müssen wir ja auch zu halbwegs christlicher Zeit nach Hause kommen.“
„Des kommt mir sehr entgegen, Major, denn ich muss irgendwo noch Heizmaterial auftreiben. Und des wird sicher ned so einfach.“
Stimmt, dachte sich Bronstein, er hatte auch kein Holz mehr zu Hause, von Kohlen ganz zu schweigen. Erstmals überlegte er, ob er nicht einfach bei seinen Eltern nächtigen sollte. Von deren Wohnung waren es keine 500 Meter zum Kommissariat in der Schönbrunner Straße, und das Mordopfer hatte seine Bleibe ebenfalls in unmittelbare Nähe gehabt. Für Bronstein würde dies einiges enorm vereinfachen. Ja, bei Vater und Mutter Unterschlupf zu suchen, dafür sprach in der Tat einiges.
Bronstein stopfte das Huhn in eine alte Tasche, wünschte Pokorny, nachdem er ihm nochmals gedankt hatte, einen schönen Abend und machte sich auf den Weg. Vor der Universität hatten die ersten Zeitungsjungen Posten bezogen und schrien ihre Schlagzeilen lauthals in die Welt. „Neue Regierung kündigt Sozialisierungskommission an!“, hörte er. Wieder so ein Versprechen, dachte er sich. „Sozialminister Hanusch schafft Arbeitslosengeld!“, lautete eine andere Botschaft. Was hatte das denn zu bedeuten? Und vor allem, was würde Minister Seipel dazu sagen, dass man plötzlich sein
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