Chuzpe
Zudem erklärte er, eine staatliche Krankenversicherung aufbauen und den Arbeitern einen gesetzlichen und vor allem bezahlten Mindesturlaub von vorerstzwei Wochen pro Jahr garantieren zu wollen. Bronstein pfiff durch die Zähne. Derlei Maßnahmen würden das Elend der Arbeiterschaft nachhaltig mildern. Er blätterte die Zeitung durch, ob auch die kaiserliche Regierung irgendwelche Schritte setzte oder auch nur ankündigte, aber wie nicht anders zu erwarten, fiel dem kahlköpfigen Prälaten diesbezüglich nichts ein. Kein Wunder, dachte sich Bronstein grinsend, der war zu sehr damit beschäftigt, sich von seinen Nonnen in Erdberg verwöhnen zu lassen.
Ein recht barock verfasster Artikel über die Steiermark fiel ihm auf. Dort hatte sich, wie er der Zeitung entnahm, eine provisorische Landesversammlung konstituiert, die ihren Willen kundtat, sich dem Staate Deutsch-Österreich anzuschließen. In einer wahrhaft geschwurbelten Sprache gelobte die Versammlung den anderen Bundesländern unverbrüchliche Treue und verband dies mit der Erwartung, diese würden es der Steiermark gegenüber ebenso halten. Bronstein ging die übrigen Nachrichten durch und stellte dabei fest, dass auch das amtliche Staatsorgan, wiewohl es noch mit dem kaiserlichen Doppeladler auf der Titelseite erschien, sich offenbar schon von der Monarchie verabschiedet hatte. Auf breiter Basis wurden die diversen Aktivitäten des Staatsrates rapportiert und erläutert, während die kaiserliche Regierung praktisch nicht mehr vorkam. Allein eine fünfzeilige Meldung fand sich noch, wonach der Kaiser den Rücktritt seines Finanzministers angenommen hatte, freilich ohne einen neuen zu ernennen. Es war offenkundig, dass sich das Kabinett Lammasch endgültig auflöste.
„Ist es dir recht, Bub, wenn ich dir die Hühnerschenkel anbrate? Du hast sicherlich auch schon lange kein Fleisch mehr gegessen?“
Bronstein sah auf. Er brauchte eine kleine Weile, ehe sein Gehirn auf die eben formulierten Worte reagieren konnte: „Vielen Dank, Mutter, aber du hast doch sicher auch Hunger.“
Die Mutter lächelte: „Ach, Bub, mir genügen die Flügel. Ich hab noch ein paar Kartoffel über, die brate ich mit ein bisschen Öl, dann haben wir eine richtig opulente Mahlzeit. Und bis wir die gegessen haben, ist die Suppe auch fertig, die kann ich dann deinem Papa einflößen.“
„Ist schon recht, Mutter. Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Nein, nein, erhol dich nur. Du hast es ja auch nicht leicht. Gerade jetzt, wo alles drunter und drüber geht.“ Bronstein schenkte seiner Mutter ein dankbares Lächeln und konzentrierte sich wieder auf die Zeitung.
Beim Essen musste er genauen Bericht erstatten, was sich im Präsidium so tat, selbst nach Pokorny erkundigte sich die Mutter. Wenig später jedoch kam die unvermeidliche Frage: „Und was tut sich in der Causa prima?“
Klar, die Mutter wollte Bronstein endlich unter der Haube sehen. In Wirklichkeit hatte sie die Trennung von Marie Caroline immer noch nicht verkraftet. Nicht, dass sie ihr sonderlich sympathisch gewesen wäre, aber immerhin hätte sie endlich eine Schwiegertochter gehabt, die ihr möglicherweise Enkel beschert hätte. „Wann, Bub, sorgst du endlich dafür, dass ich ein kleines Enkerl auf meinem Schoß schaukeln kann?“
„Mutter! Bitte!“
„David, du bist 35. Glaubst du, es nimmt dich noch eine, wenn du jetzt nicht bald einmal auf Freiersfüßen wandelst? Auch du wirst nicht jünger.“
„Wenn die Richtige kommt, Mutter, dann werd ich schon wissen, was ich zu tun habe.“
Die Mutter stupste ihn verschwörerisch an: „Gerade jetzt ist doch die Lage günstig wie nie. So viele Frauen und so wenige Männer! Da musst du doch eine gute Partie machen!“
Bronstein verdrehte die Augen und schlug seine Zähne in den Hühnerschenkel. „Die Friederike von den Thalers, die ist übrigens immer noch zu haben“, fuhr die Mutter unbeirrt fort.„Eine wirklich schöne Frauensperson. Und so bescheiden und wohlerzogen. Die gäbe sicher eine hervorragende Ehefrau ab. Kannst du dich noch erinnern, wie sie dich immer angehimmelt hat?“
Bronstein erinnerte sich. Bis zu seiner Matura war sie nur seinetwegen zu jeder Familienfeier gekommen, um ihm dann den ganzen Tag nicht von der Seite zu weichen. Dabei hatte sie kein einziges Wort gesprochen, was Bronstein damals richtig beängstigend gefunden hatte. Wie alt mochte die jetzt sein? 32? 33? Oder doch ein wenig jünger? Egal, jemand wie sie kam für ihn auf keinen Fall
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