Chuzpe
in Frage. „Mutter, kommt Zeit, kommt Hochzeit“, sagte er nur und wechselte das Thema, „glaubst du, bleibt es so kalt? Bekommen wir einen harten Winter?“
Tatsächlich ließ sich die Mutter ablenken. Mit einem Mal waren ihre Gedanken wieder bei ihrem Mann: „Das wollen wir besser nicht hoffen, denn wir haben praktisch nichts zum Heizen da. Und das sind keine guten Voraussetzungen für eine rasche Genesung.“
„Ich hab mir eh gedacht, ich geh bei nächster Gelegenheit in den Wienerwald. Ich bring euch dann was mit.“
„Das wäre wirklich sehr, sehr zuvorkommend von dir, lieber Bub“, sagte die Mutter, während sie sich vom Tisch erhob und die Teller abräumte, „ich werde mich jetzt um deinen Vater kümmern. Du kannst dich ja mit einem guten Buch in dein altes Zimmer zurückziehen.“
„Ja“, stimmte Bronstein zu und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, „wenn du mich brauchst, dann kommst du einfach, ja?“ Die Mutter nickte.
Die väterliche Bibliothek war gut bestückt, sodass Bronstein eine Weile brauchte, ehe er sich für ein Werk entscheiden konnte. Ob der Diskussion über seine amouröse Zukunft hatte er wieder an Jelka denken müssen, und so zog er sich mit Goethes Werther in jenen Raum zurück, in dem er vorbeinahe zwei Jahrzehnten aufgewachsen war. Er ließ sich auf den Diwan fallen, der sein ehemaliges Bett ersetzt hatte, und schlug das Buch auf: „Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor und weiß, dass ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksal eure Tränen nicht versagen.“ Na, das war ja eine hervorragende Einstimmung auf sein morgiges Rendezvous. Als Bronstein über den Satz stolperte, der da lautete: „Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft von ihr gesprochen wird“, da hatte er endgültig genug gelesen. Er ging durch die Küche zum elterlichen Schlafzimmer und lugte vorsichtig hinein. Die Mutter war im Lehnsessel, den sie direkt an die Seite ihres Mannes gestellt hatte, eingeschlafen. Bronstein blies die Kerze aus und zog sich wieder in sein Zimmer zurück. Er holte sich aus dem Kasten eine Decke und beschloss, es seiner Mutter gleichzutun.
II.
Freitag, 8. November 1918
Eisige Kälte weckte ihn. Er fror entsetzlich. Mit klammen Fingern suchte er seine Taschenuhr und bemühte sich, in der Finsternis das Zifferblatt zu erkennen. Es war unmöglich. Er setzte sich auf, griff nach den Streichhölzern und zündete die Kerze an. Dann blickte er nochmals auf die Uhr. Es war wenige Minuten nach sechs Uhr morgens. Eigentlich zu früh, um schon aufzustehen. Aber angesichts der arktischen Temperaturen würde er wohl ohnehin nicht mehr einschlafen. Eilig kleidete er sich an, dann ging er in die Küche. Er hielt Ausschau nach Heizmaterial, fand ein paar kümmerliche Äste, die er in den Herd stopfte. Kurz entschlossen riss er einige Seiten aus der Zeitung heraus, faltete sie und hielt dann ein brennendes Streichholz daran. Das Papier fing sofort Feuer. Bronstein schob es unter die Äste und hoffte, die Zeitung würde lange genug brennen, um das Holz zu entzünden. Er musste noch zwei Seiten nachlegen, ehe sein Tun von Erfolg gekrönt war. So leise wie nur möglich öffnete er die Wohnungstür, um von der Bassena Wasser zu holen. Wenigstens diese Versorgung funktionierte noch. Er goss den Teekessel voll und stellte ihn auf den Herd. Eingewickelt in ein Geschirrtuch fand sich noch ein Kanten Brot, von dem er zwei dünne Scheiben abtrennte. In Zeiten wie diesen mussten trockenes Brot und Tee als luxuriöses Frühstück durchgehen. Während er darauf wartete, dass die Kräuter ihre Wirkung entfalteten, zündete er sich die erste Zigarette des Tages an. Sodann machte er sich einen Tagesplan. Zuerst würde er das Kommissariat aufsuchen, danach die Wohnung der Feigl in Augenschein nehmen. Diese beiden Tätigkeiten würden denTag bis Mittag ausreichend anfüllen. Am Nachmittag wollte er sich mit Pokorny über die Spitzer-Sache unterhalten, und dann blieb nur noch, auf die Begegnung mit Jelka zu warten.
Mit einem Glas Tee, auf das er eine Scheibe Brot gelegt hatte, steuerte Bronstein das elterliche Schlafzimmer an. Seine Mutter war offenkundig in der Nacht erwacht, denn sie saß nicht länger im Lehnstuhl, sondern lag nun neben ihrem Gatten im Bett. Bronstein stellte Tee und Brot ab und ging daran, seine Mutter
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