Chuzpe
gegen Ermüdung. Aber ich würde Ihnen zuerst einmal den Saft empfehlen. Die Einreibung können Sie dann verwenden, wenn das Fieber abgeklungen ist.“
„Und wie viel kostet der Saft?“
„Zwei Kronen.“
Bronstein blieb die Luft weg. Bald würde er Schulden haben wie ein Stabsoffizier. Aber sein Vater verdiente es, dass man jede Möglichkeit nutzte, ihn rasch wieder gesund werden zu lassen. Also langte Bronstein abermals in seine Brieftasche, berappte den horrenden Preis und zog mit einer Flasche Spitzwegerichsaft ab. Er wendete sich nach rechts und trabte flott Richtung Innenstadt, um die eben erst erworbene innere Wärme nicht gleich wieder durch die niedrigen Temperaturen zu verlieren. Fast im Laufschritt überquerte er der Reihe nach die Reinprechtsdorfer Straße, die Ramperstorffergasse und die Pilgramgasse und gelangte so zur Kettenbrückengasse, wo er erneut rechts abbog. Durch die Neugasse gelangte er zur Wiedner Hauptstraße, und eine Viertelstunde später stand er endlich vor dem Wohnhaus der Eltern. Eilig überschlug er den Zeitrahmen, der ihm noch blieb. Von hier würde er ins „Herrenhof“ etwa eine halbe Stunde benötigen, also blieben ihm rund dreißig Minuten, um sich nach dem Befinden des Vaters zu erkundigen und der Mutter den Saft zu geben. Er trat in den Hausflur und stieg die Stufen hinauf zur elterlichen Wohnung.
Die Mutter öffnete mit ernstem Gesicht. „Es geht ihm keineswegs besser“, sagte sie mit leiser Stimme, „der Doktor war noch einmal da, aber er hat nur g’sagt, das g’fallt ihm gar nicht. Bub, ich sag dir’s, ich hab solche Angst.“
Bronstein bemühte sich um Optimismus: „Du weißt doch, Mama, der Papa ist zäh. Der lässt sich doch von so einer Grippe nicht unterkriegen, der packt das schon. Und außerdem“, und dabei hielt er die erworbene Medizin in die Höhe, „habe ich extra noch etwas erworben, was ihm sicher helfen wird.“
Die Mutter machte große Augen.
„Das ist Spitzwegerichextraktsaft“, erklärte Bronstein nicht ohne Stolz, „der stärkt den Organismus und hilft dem Vater, sich gegen die Krankheit zu wehren. Aber jetzt sag mir einmal, was der Arzt genau gesagt hat.“
„Nun ja, gegen neun Uhr ist der Vater aufgewacht. Er hatte immer noch hohes Fieber gehabt und über Ohren- und Augenschmerzen geklagt. Und so einen ganz grauslichen Schüttelfrost hat er gehabt. Das Fieber ist weiter gestiegen, sodass ich mir gedacht hab, er deliriert schon. Am meisten Angst hab ich aber bekommen, wie sein Atem immer unregelmäßiger und rasselnder geworden ist. Ich hab dann die Bettwäsche gewechselt und ihn selbst trockengerieben, und da hab ich g’seh’n, seine Haut is aschfahl, direkt grau. Und glüht hat er. Und gleich drauf hat’s ihn wieder g’schüttelt. Das geht so nicht weiter, hab ich mir gedacht, und bin noch einmal um den Arzt. Der ist dann vor zwei Stunden gekommen und hat mir g’sagt, der Papa hat sich auch noch eine Lungenentzündung eingefangen. Es heißt …“, die Mutter wurde von Tränen überwältigt, sodass sie nicht weitersprechen konnte, „… es heißt, die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend.“
Nun machte sich auch Bronstein ernsthaft Sorgen. Auch wenn die Zeitungen nichts darüber geschrieben hatten, wusste er als Polizist natürlich um die Ausmaße der Epidemie. Noch im Oktober waren rund 5.000 Personen in Wien der Grippe erlegen, und in einem Bericht vom 4. November hatte es geheißen, dass bis zu 100.000 Wiener an ihr erkranken könnten. Vor allem aber waren erfahrungsgemäß gerade Kinder und alte Menschen am ehesten Opfer einer solchen Seuche, und die Konstitution des alten Herrn war schon seit dem Ableben des alten Kaisers nicht mehr die beste gewesen. Bronstein sah die Verzweiflung in den Augen seiner Mutter, und mit umso energischer vorgetragener Überzeugung pries er ihr sein Säftchen an, das ohne Zweifel den Vater heilen werde. Die Mutter war dankbar, aber Bronstein erkannte doch, dass sie ihm nicht glauben konnte, so sehr sie es auch gewollt hätte.
„Bleibst du wieder da?“, fragte die Mutter endlich.
„Du, nein, ich hab noch eine Verpflichtung in der Innenstadt, weißt eh, was Politisches. Und da wird es sicher spät werden. Wer weiß, ob ich heute überhaupt ins Bett komme. Im Augenblick geht ja bei uns alles drunter und drüber, wie du dir sicher vorstellen kannst.“
Die Mutter nickte zwar, doch es war ihr deutlich anzusehen, dass ihr die aktuellen politischen Verwerfungen vollkommen
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