Chuzpe
wir noch nicht die geringste Spur. Das übliche Stochern im Heuhaufen also.“
Ihm entging nicht, dass seine Aussage Jelka betroffen gemacht hatte, sodass sie auf allfälligen Spott verzichtete. Stattdessen hob sie ihr Glas und meinte nur: „Auf bessere Zeiten!“
Bronstein lächelte: „Dem kann ich mich getrost anschließen.“ Er nutzte die kurze Gesprächspause, um einen Themenwechsel einzuleiten: „Aber reden wir nicht von mir, reden wir von dir. Ich weiß überhaupt nichts von dir. Erzähl mir ein wenig über dich.“
Jelka zuckte mit den Schultern: „Ach, da gibt’s nicht viel zu erzählen.“
„Doch, doch“, beharrte Bronstein, „wo kommst du genau her, wie bist du nach Wien gekommen, und was machst du, wenn du nicht gerade die Revolution vorantreibst? Das würde mich zum Beispiel alles sehr interessieren.“
Jelka musterte Bronstein mit einem kritischen Blick und versuchte offensichtlich zu ergründen, wie ernst es ihm mit diesen Fragen war. Offenbar kam sie dabei zu dem Schluss, dass er esehrlich meinte, denn sie dämpfte die Zigarette aus, holte kurz Luft und antwortete dann.
„Geboren bin ich auf einem kleinen Landgut im östlichen Galizien. So ungefähr auf halbem Weg zwischen Lemberg und Tarnopol. Mein Vater stammt von polnischen Kleinadeligen ab, meine Mutter ist Ruthenin. Bei uns zu Hause gab es sprachlich ein totales Kunterbunt. Es wurde Polnisch, Ruthenisch und Deutsch wild durcheinandergeredet. Und da kam dann noch unsere Gouvernante dazu, die eine Jüdin aus Tarnopol war. Wenn die zornig auf uns war, dann hat sie auf Jiddisch drauflosschwadroniert, dass dir angst und bang geworden ist. Aber für mich war das alles eigentlich ein wahrer Segen. Ich bin mit vier Sprachen aufgewachsen.“
„Das hört sich aber nicht nach Tochter der werktätigen Klasse an“, schmunzelte Bronstein.
„Na gut, das waren Marx und Engels ja auch nicht gerade“, gab sie zu bedenken.
„Und wie bist du dann in die Reihen der Revolution geraten?“
„Wenn du einmal siehst, unter welch elenden Bedingungen das Proletariat im Osten Galiziens vor sich hinvegetieren muss, da kannst du gar nicht anders, als Partei zu ergreifen.“ Jelka hielt einen Moment inne, schien sich an etwas zu erinnern.
„Anfang 1913 gab es einen großen Streik der Eisenbahner. Die Stahlkocher haben sie aus Solidarität unterstützt, und daraufhin sind sie von den Unternehmern ausgesperrt worden. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Arbeiterfamilien der Reihe nach verhungert sind. Wir haben Suppenküchen für die Arbeiter organisiert, und da sind deine galizischen Kollegen gekommen und haben unsere Kessel konfisziert. Vor den Augen der Arbeiterkinder haben sie die Suppe in den Dnjestr gekippt. Da habe ich, ich kleiner Dreikäsehoch, die Nerven verloren und den Polizeioffizier in aller Öffentlichkeit geohrfeigt.“
Bronstein pfiff durch die Zähne.
„Mein Vater musste alle seine Verbindungen spielen lassen, um meine Verhaftung zu verhindern. Er hat mich dann sofort zu seiner Cousine nach Wien expediert, wo ich das Lyceum abgeschlossen habe. Eigentlich wollte ich ja Medizin studieren, aber der Krieg kam dazwischen. Ich habe mich freiwillig zum Lazarettdienst gemeldet, weil mein Onkel, der auch hier in Wien lebt, mir als Arzt schon einiges beigebracht hatte. Na, und was ich da alles erlebt habe, das hat mich endgültig zum Sozialismus bekehrt.“
Bronstein ahnte, wovon Jelka sprach. „Ein echter Jammer“, sagte er nur.
Jelka nickte. „Als heuer im Jänner die Streiks begannen, da bin ich auch auf die Straße gegangen. Ich wollte einfach, dass das alles aufhört. Und auf einmal bin ich auf einer Holzkiste gestanden und habe eine Rede gegen den Krieg gehalten. Ich denke, das war meine Feuertaufe.“
„Und warst du wirklich in Rotrussland?“ Die Frage hatte Bronstein schon lange auf der Zunge gebrannt.
„Interessiert dich das als Mensch oder als Kieberer?“
„Es interessiert mich als Freund.“
„Nun ja“, begann sie, „im Zuge des Streiks geriet ich ins Visier deiner Kollegen, und so dachte ich, es wäre besser, sich einmal eine Weile rar zu machen. Ich bin in den nächsten Zug gestiegen und immer Richtung Osten gefahren, dachte, ich schaue endlich wieder einmal zu Hause vorbei. Auf einmal blieb der Zug stehen, und der Schaffner erklärte, es gehe nicht weiter, denn wir seien in unmittelbarer Nähe der Front. Also bin ich ausgestiegen und zu Fuß weiter. Das war gar nicht so leicht, denn Anfang März war dort
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