Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
Vom Netzwerk:
„Woher“, fragte er endlich, „verstehst du es, dich so gewählt auszudrücken?“
    „Ich bin Vertrauensmann der Simmeringer Arbeiter. Da lernt man so etwas“, antwortete Müller mit einem Anflug geschmeichelten Stolzes.
    Bronstein rang um Fassung und sah die Männer der Reihe nach an: „Ihr seid euch aber schon im Klaren darüber, dass es vollkommen illegal ist, was ihr hier vorhabt. So sehr ich euch auch beipflichte, dass es ein Skandal ist, dass man für derlei Taten nicht zur Rechenschaft gezogen wird, so dringend muss ich euch davon abraten, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.“
    „Dafür haben wir dich ja geholt. Du sollst sein Verteidiger sein. Wenn du uns davon überzeugst, dass wir nicht rechtens handeln, dann lassen wir den Kerl laufen und krümmen ihm weiter kein Haar. Wenn es dir aber nicht gelingt, uns davon zu überzeugen, dann werden wir beraten, wie seine Strafe aussehen soll. Ich finde, das ist nur gerecht“, hielt ihm Müller entgegen.
    Bronstein sah sich abermals um. „Und das ist die Meinung von euch allen?“, fragte er. Die Männer nickten wie auf Kommando. „Josef, František, das könnt ihr doch nicht ernst meinen! Ihr wisst doch genau, dass man im Gegenzug euch zur Verantwortung ziehen wird, wenn diesem Scheusal hier etwas zustößt. Das ist doch die ganze Sache gar nicht wert.“
    Gajdošik sah Bronstein direkt in die Augen: „Oh doch!“
    „Und was ist mit dir, Müller“, wandte sich Bronstein nun an denjenigen, den er als Rädelsführer der Runde ansah, „du warst doch damals gar nicht dabei. Was geht dich das alles an?“
    „Es ist egal, ob ich dabei war oder nicht“, entgegnete dieser, „ich habe genug gesehen in diesem gottverdammten Krieg, um zu wissen, welche Verbrechen begangen wurden und wer dafür verantwortlich ist.“
    „Bronstein“, meldete sich nun auch Veverka zu Wort, „wir machen das mit dir oder ohne dich. Entscheide dich, wem du dienen willst: der Gerechtigkeit oder denen da.“ Dabei machte er eine abfällige Geste in die Richtung Spitzers, der wieder begonnen hatte, an seinen Fesseln zu zerren und zu schnauben.
    „Gebt’s eam Spitz, damit er Papp’n halt“, fluchte Lazarenko, der sich damit erstmals vernehmen ließ.
    „Nein“, trat ihm Müller entgegen, „keine Gewalt. Noch nicht. Erst müssen wir den Fall in aller Ruhe durchgehen, und dann wird die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen.“
    „Wird die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen“, wiederholte Bronstein, „ihr habt ihn doch schon verurteilt. Das ist doch alles eine Farce. Damit will ich nichts zu tun haben.“ Er sprang auf und schickte sich an, wieder zur Tür zu gehen. Nemeth spannte seinen Körper und machte sich breit. Der Major wog seine Chancen gegen den großen Ungarn ab und ließ es nicht auf eine Auseinandersetzung ankommen. „Das ist doch alles Wahnsinn“, stöhnte er, „kommt’s zu euch, Burschen! So geht das nicht.“ Sein hilfloser Appell verhallte ohne Reaktion.
    Mit einem Mal erhob sich auch Andrinović und trat ganz nah an Bronstein heran: „Erinnere dich an diesen verfluchten Tag.“ Andrinović sprach langsam und mit starkem Akzent. Aber seine Stimme war fest und eindringlich. „Wir lagen im Dreck. Alle. 360 Mann in unserem Abschnitt. Sperrfeuer. Seit fünf Uhr früh ohne Pause. Dann kommt er“, Andrinović zeigte auf Spitzer, „mit großem Gefolge. Oberst, Major, Hauptmann. Sagt, wir müssen Hügel nehmen. Sofort. Ohne Rücksicht auf Verluste.“
    Mit einem Mal erstand die ganze Szene wieder vor Bronsteins innerem Auge. Er hörte Andrinović gar nicht mehr, warvollkommen gefangen von jenem 8. Mai 1915, den er so lange zu vergessen versucht hatte. Ein grauer, ein nasser, ein kalter Morgen. Die ganze Ebene voller Nebel. Man sah kaum zehn Meter weit. Alle hatten sich im nächstbesten Unterstand eingegraben. Die Schrapnelle der russischen Artillerie schlugen links und rechts ein und wirbelten Unmengen an feuchter Erde auf. Und immer wieder belferten die Maschinengewehre von der gegnerischen Seite auf, bestrichen den gesamten Frontabschnitt mit tödlichem Blei. Er lag mit seiner Truppe an der Ostflanke, befand sich unter schwerstem Beschuss. Und dann kam plötzlich dieser irrsinnige Befehl. Man sollte aus den Schützengräben gehen und die feindliche Höhe im Sturmangriff nehmen. Das Niemandsland zwischen den Stellungen mochte 200 bis 300 Meter sein, und nichts, aber auch überhaupt nichts war als Deckung geeignet. Selbst wenn man es schaffte, diese Distanz zu

Weitere Kostenlose Bücher