Chuzpe
überwinden, so war der gesamte gegnerische Bereich mit zwei Meter hohem Stacheldraht gesichert. Bis man den durchtrennt haben würde, wäre die gesamte Truppe zersiebt. Der Befehl war einfach nicht ausführbar. Und genau das hatte er als diensthabender Leutnant auch durchgegeben. Spitzer hatte ihn nur gefragt, ob er sich wegen Befehlsverweigerung vor dem Kriegsgericht verantworten wolle. Er aber war nicht bereit gewesen, sich einschüchtern zu lassen. Als Polizeioffizier kenne er seine Rechte, auch hier an der Front, hatte er dem Generalleutnant entgegengebrüllt, doch just in diesem Moment war der ungarische Leutnant neben ihm nicht mehr zu halten gewesen. Mit einem markerschütternden Schrei sei er samt seinen Husaren oder Honveds, so genau konnte sich Bronstein nicht mehr erinnern, aus dem Graben gesprungen und habe mit dem Angriff begonnen.
Nach und nach hätten die einzelnen Gruppen nachgezogen, und schließlich war Bronstein mit seinen Leuten allein im Schützengraben zurückgeblieben. Es hätte für alle die Exekutionwegen Feigheit vor dem Feind bedeutet, wenn er nun nicht auch gestürmt wäre, und seine Männer wussten das auch. Einen Augenblick später hatte er „Mir nach!“ geschrien und war über die Brustwehr geklettert. Er hatte seine Pistole in der rechten Hand und forderte die Soldaten auf, nach vor zu laufen. Und just als er seinen ersten Schritt im Niemandsland hatte tun wollen, hatte ihn eine gewaltige Kraft einfach umgerissen. Wie ein gefällter Baum war er nach hinten in den Schützengraben zurückgeprallt, wo er das Bewusstsein verloren hatte. Im Lazarett war er wieder zu sich gekommen. Mit einem Durchschuss in der Schulter samt zerschmettertem Schlüsselbein. Gajdošik hatte ihm einige Tage später von dem fehlgeschlagenen Angriff berichtet. Die Truppe des Ungarn war vollkommen ausradiert worden. Nicht ein Einziger hatte überlebt. Von den anderen vier Gruppen galten ein paar als vermisst, zehn Mann hatte man verwundet bergen können. Und Bronsteins Zug, der als letzter den Angriff gestartet hatte, war noch am glimpflichsten davongekommen. 20 Tote, 15 Verwundete. Die übrigen 15 hatten sich unverletzt zurück in den Schützengraben retten können. Das ganze Unternehmen war ein katastrophaler Fehlschlag gewesen, der fast 320 Mann das Leben gekostet hatte. An all das konnte er sich jetzt wieder lebhaft erinnern. Die Schlacht von Tarnow-Gorlice machte Geschichte, doch für seine Truppe war sie das jüngste Gericht gewesen.
„Was sagt du jetzt?“, hörte er Andrinović fragen.
Bronstein kehrte um und setzte sich wieder. Er vergrub sein Gesicht in seinen Handflächen. „Ihr habt recht“, murmelte er. „Aber“, und seine Stimme gewann wieder an Sicherheit, als er seinen Kopf hob und er in die Runde blickte, „hört euch einmal an, was er zu sagen hat.“
Ein allgemeines Murren hob an, und die Männer sahen sich gegenseitig an. Zu Bronsteins Überraschung war es Müller, derihnen Einhalt gebot: „Nein, er hat recht. Zu einer ordentlichen Verhandlung gehört es, den Angeklagten zu hören. Petru, nimm ihm den Knebel ab. Er soll sagen, was er zu sagen hat.“
Ciorbea sah Nemeth an, dieser nickte langsam. Mit einem gewaltigen Ruck, der Spitzer aufstöhnen ließ, entfernte der Rumäne die um die Mundpartie gewickelte Schnur und zog das Taschentuch heraus, das in Spitzers Mundhöhle gesteckt worden war. „Ihr Tiere“, brüllte Spitzer, der abermals an seinen Fesseln rüttelte, „ich werde dafür sorgen, dass ihr alle vors Kriegsgericht kommt. Ihr werdet erschossen. Samt und sonders. Sie auch, Leutnant!“, feixte er in Richtung Bronstein.
Müller ging zu dem am Boden liegenden Offizier hin und dort in die Hocke. Mitleidvoll sah er Spitzer an: „Du hast überhaupt keine Ahnung, worum es hier geht, oder? Wenn es dir nicht gelingt, uns davon zu überzeugen, dass du dein Leben nicht verwirkt hast, dann bist du tot. Und zwar noch heute. Und dann verscharren wir dich einfach da im Wald, und niemand wird je deinen Kadaver finden. Also wenn du noch einmal die Sonne aufgehen sehen willst, dann redest jetzt besser.“
„Du Schwein“, schrie Spitzer, „dich nehme ich mir vor. Ich …“ Müller hatte blitzschnell eine Pistole gezogen und hielt sie Spitzer an die Schläfe. „Eigentlich solltest das ja selber machen, aber dafür hast ja nicht die Schneid, du erbärmliche Witzfigur. Also, Zeit für das letzte Gebet.“
Spitzer geriet nun in Panik. „Ist ja schon gut“, keuchte er, „ich red
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