Cinderella auf Sylt - Bieling, E: Cinderella auf Sylt
»Männer sagen selten die Wahrheit, wenn es um ihre Vorteile geht.«
»O Mann, du klingst schon fast wie meine Freundin Jule.«
»Na ja, vielleicht weiß deine Freundin, wie Männer ticken.«
»Aber nicht Moritz! Das glaube ich einfach nicht.« Gekonnt faltete Cinderella den Rand der Decke und beseitigte die letzten Falten. »Moritz ist da völlig anders.«
Merle hing den Wischer an den Servicewagen und stellte den Eimer dazu. Dann streifte sie die Gummihandschuhe von ihren Händen, steckte sie ein und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Meine Tante hat erst dreizehn Jahre nach ihrer Hochzeit erfahren, dass ihr Ehemann neun Kinder aus Dutzenden vorherigen Beziehungen hatte. Alle im Umkreis von Oldenburg, seiner damaligen Heimat.«
Cinderella drehte sich erstaunt um. »Und wie hat deine Tante reagiert?«
»Gar nicht. Aber ich glaube, sie hat ihm bis heute nicht verziehen.«
Inge Lohmanns Erscheinen unterbrach das Gespräch. Sie blickte sich im Zimmer um. »Und, wie weit seid ihr?«
»Gerade fertig geworden«, erwiderte Merle Rosch.
»Das ist sehr gut«, freute sich Inge Lohmann. »Der Empfang hat eben zwei weitere Zimmeraufbereitungen in Auftrag gegeben.« Sie klatschte in ihre Hände. »Also, die Damen – auf ins nächste Zimmer.«
Viel zu spät, aber typisch für eine Schicht unter dem Regime von Inge Lohmann erschien Cinderella im Kindergarten, um Tommy abzuholen. »Tut mir leid, Schatz, aber es ging nicht früher.«
»Immer bin ich der Letzte«, maulte er. »Sogar Pickelfreddy ist schon lange abgeholt worden. Obwohl den eigentlich keiner will.«
Cinderella beugte sich herab und half Tommy, die Schnürsenkel seiner Schuhe zu binden. »Wieso will den denn keiner?«
»Na, weil der voll ekelig ist und überall Pickel hat.«
»Aber dafür kann er doch nichts.«
Tommy sprang von der Bank auf und griff nach seiner Jacke, die an einem hölzernen Elefantenrüssel hing. »Doch, kann er wohl!«
»Und weshalb?«, fragte Cinderella nach. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ein fast Sechsjähriger niemanden hatte, der ihn mochte.
»Der wirft Popel rum«, rechtfertigte Tommy seine Antipathie.
»Igitt, das ist wirklich ekelig.«
»Und der schmiert die auch heimlich an die Frühstücksbrote von anderen.«
Cinderella riss die Augen auf. »Was? Das ist ja voll daneben.«
»Und weil er noch ganz viele andere ekelige Sachen macht, hat er eben Pickel.«
Da war sie wieder, die Kinderlogik. »Ah ja! Verstehe.« Obwohl Cinderella die unschönen Handlungen des Jungen nicht mit seinen Pickeln in Verbindung bringen konnte, aber sie hatte gelernt, nicht länger über Dinge nachzudenken, die sie sowieso niemals kapieren würde. »Wir müssen noch schnell in den Kurzwarenladen.«
»Zu der komischen Tante?«, fragte Tommy.
»Ja, zu Ingrids Kurzwaren. Aber die ist nicht komisch, sondern eine Garn-Künstlerin.« Und das war die Inhaberin in der Tat. Staunend blieben die Touristen vor ihrem Schaufenster stehen, wenn Ingrid dekorierte. Sie zauberte wahre Kunstwerke aus Wolle, Spitze und Häkelseide.
Tommy äffte die kreative Geschäftsfrau nach. »Wählen Sie aus meiner bunten Vielfalt.« Dabei verbeugte er sich, schwang seine Hände hin und her und legte ein übertriebenes Grinsen auf.
»Das ist gemein«, schimpfte Cinderella. »Hör auf damit!«
»Das ist ’ne Inselhexe, sagt Florian.«
»Blödsinn. Es gibt keine Hexen.«
»Doch, auf Sylt und auf dem Brocken.«
»Das ist eine Sage, Tommy. Man sagt, dass es früher auf dem Brocken Hexen gegeben hat. Deshalb feiern die Harzer auch jedes Jahr Walpurgisnacht und verkaufen kleine Brockenhexen auf Besen.«
Tommy nahm seine Tasche auf und hängte sie sich um. »Und das ist doch eine Inselhexe.«
»Treten Sie näher und wählen Sie aus meiner bunten Vielfalt«, lockte Ingrid Meißner ein Touristenpärchen hinein, das interessiert vor ihrem Schaufenster stand. Tommy kicherte und stupste Cinderella an, die ihm wiederum einen zornigen Blick zuwarf.
»Reiß dich ja zusammen«, zischte sie ihn an.
»Wann kommt Moritz wieder?«, fragte er.
Cinderella zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Wenn ich mich entschieden habe.«
»Und wann hast du das?«
»Lass mich jetzt in Ruhe Knöpfe aussuchen.«
»Guck mal, Mama, der ist schön.« Tommy hielt einen riesigen Knopf aus Holz in seiner Hand.
»Stimmt, der ist nicht übel. Findest du noch mehr von denen?«
Tommy wühlte eifrig mit beiden Händen in der Knopftruhe.
Beschäftigungstherapie für kleine
Weitere Kostenlose Bücher