Cinderella auf Sylt - Bieling, E: Cinderella auf Sylt
Halle.«
»Ich bleibe hier!« Tommy ließ sich ins Kissen fallen und zog die Decke über den Kopf. »Ich gehe nicht mit!«
Cinderella ignorierte seine Antwort. Sie hatte keine Kraft, sich gegen die verbale Rebellion eines Fünfjährigen zu wehren. Und irgendwie konnte sie ihn auch verstehen. Schließlich war sein Herz gebrochen. Genauso wie ihres. Tommys Frühstück stellte sie auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. Der Stuhl, auf dem Moritz immer gesessen und vorgelesen hatte.
»Tee steht in der Küche«, sagte sie, ohne eine Antwort abzuwarten. Dann nahm sie die Reisetaschen aus dem Schrank und stellte sie aufs Sofa. Sie trat zurück und schlug die Hände vors Gesicht. So, wie sie es einst am Strand nach ihrer Ankunft tat. Nur dieses Mal war es nicht der Zweifel, der sie zerfraß, sondern die Liebe selbst. Das Leben, das sie für Tommy aufbauen wollte, erwies sich als nichts anderes als ein ungeschriebenes Märchen. Sie dachte an Merle, die ihr Fluchtvorhaben gewiss nicht verstehen könnte. An Joseph, der kopfschüttelnd sein Gesicht in einer Tasse Friesentee vergraben würde. Und an Elsbeth Schmiedel, in deren Augen sich Traurigkeit spiegeln würde. All die Menschen, die ihr in den letzten Wochen zur Seite gestanden hatten. Cinderella wischte mit der Hand über ihr schmerzendes Gesicht.
Und der Major?
Er würde sie am Kinn packen, ihren Kopf gerade rücken und auf einer ordentlichen Haltung bestehen. Danach ihr das Heulen untersagen und lautstark brüllen: Ein Aschenputtel kennt keinen Schmerz!
Die Taschen waren gepackt. Cinderella blickte zur Uhr. »In zehn Minuten kommt das Taxi«, rief sie.
Tommy saß stumm auf seinem Bett. In seiner Hand hielt er das Funkgerät, das alles verändert hatte. Auf dem Weg vom Restaurant nach Hause schimpfte er es noch blödes Ding. Nun behütete er es, als sei das Gerät die einzige Bindung zur Insel und der seidene Faden zu Moritz.
»Pack es in die Tasche«, forderte Cinderella.
Tommy schüttelte den Kopf. »Das behalt ich in der Hand!«
»Dann pack wenigstens Lumpi rein.«
»Den auch!«
»Du sollst …« Cinderella winkte ab. »Meinetwegen!« Tief im Herzen tat Tommy ihr leid. Zu gerne hätte sie ihn fest an sich gedrückt. Aber er wich ihr aus und ließ keinerlei Emotionen zu. Müde von der schlaflosen Nacht sah sie sich ein letztes Mal um. Das Kleid für Elsbeth Schmiedel hing hübsch drapiert am Schrank. Die Kündigung fürs Hotel lag gut sichtbar auf dem Tisch. Und die Mietzahlung für einen Monat im Voraus steckte mit einer Entschuldigung im Briefkuvert, adressiert an ihre Vermieterin. Mehr Geld hatte Cinderella nicht übrig. Bestimmt würde die freundliche Rentnerin schnell wieder einen Nachmieter finden.
»Komm, Tommy!« Sie zog ihre Jacke an und stellte alle Taschen in den Flur. »Mach schon«, ermahnte sie ihn.
Wehmütig schlurfte er zu ihr und ließ sich anziehen. »Und wo wohnen wir?«, fragte er leise.
»Bei Tante Jule.«
Er blickte ins Wohnzimmer. »Und der Jöölboom?«
Cinderella hockte sich vor ihn und stülpte die Handschuhe über seine Finger. »Der passt nicht mehr in die Taschen.«
»Schade«, erwiderte Tommy. »Ich mag ihn nämlich.«
Cinderella stupste gegen seine Nase. »Weißt du was? Ich auch!« Dann lief sie zum Tisch und holte den hölzernen Weihnachtsbaum. Obwohl dieser eigenartige Baum sie an Moritz erinnerte, konnte sie Tommy diesen Wunsch nicht abschlagen.
»Eine Hose ist wesentlich vorteilhafter hier auf Sylt.« Der Taxifahrer lachte, als Cinderella ihm mit Tommy an der Hand entgegenkam.
»Ach, Sie sind das«, erinnerte sich Cinderella. »Der Taxi-Mann, der mich gerettet hat.«
»Ich hoffe, Sie wollen uns nicht wieder verlassen?«
Cinderella nickte. »Meine Stiefmutter braucht mich.«
»Doch nicht etwa dauerhaft?«
»Ja! Leider!«
»Ach, wie schade!« Er öffnete den Kofferraum und legte die Sitzschale für Tommy auf die Rückbank. Dann blickte er ihn an. »Soll ich helfen?«
»Nee! Ich bin schon groß und kann das selbst«, blockte Tommy ab.
Cinderella lief zurück ins Haus. »Die Taschen«, rief sie.
Der Taxifahrer folgte. »Nun lassen Sie mal. Ich mache das schon.«
»Danke!« Cinderella ging zum Auto und stieg ein.
Verdammt! Die Schlüssel!
»Ich komme gleich wieder«, sagte sie zu Tommy, der schweigend hinter ihr saß. Sie sprang hinaus, rannte zum Haus und warf die Schlüssel fürs Apartment in den Briefkasten von Elsbeth Schmiedel.
»Na? Was vergessen?«, fragte der Taxifahrer mit den letzten beiden
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