Cinderella undercover
durch mein Zimmer und gab ständig unaufgefordert Zitate aus Aschenputtel von sich.
»Wenn du noch einmal Bäumchen rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich rufst, geht’s ab in den Käfig. Hast du mich verstanden?«, meckerte ich schließlich gereizt. La Perla antwortete artig: »Verstanden, verstanden«, worauf ich doch wieder lachen musste. Schlauer Vogel…
Als es mir gerade ein wenig gelungen war, mich auf den Stoff zu konzentrieren, klopfte es an der Tür. Es war Kristen. »Na, was gibt’s?«, fragte ich, nachdem ich sie hereingebeten hatte. »Mama möchte gern wissen, ob es dabei bleibt, dass du Dienstagabend diesen indischen Linseneintopf machst«, wollte sie wissen und schaute mir über die Schulter. »Oh, Mathe, dein Lieblingsfach.«
»Und wieso fragt sie mich nicht einfach selbst?«
»Weil sie sich gerade zurechtmacht. Thomas und sie gehen doch heute Abend in die Oper.« Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Wer hätte gedacht, dass eine Frau wie Stephanie sich für Opernarien begeistern konnte. Kristen lächelte: »Kann ich dir denn irgendwie helfen?«
Helfen?!?
Ich konnte es kaum fassen, die Saftschubse in spe wollte mir erklären, wie das verdammte Newton-Dingsda funktionierte?
»Pass auf: Wenn das direkte Verfahren zur Bestimmung der Nullstelle nicht oder nur mit sehr großem Aufwand anwendbar ist, verwendet man in der Regel das sogenannte Näherungsverfahren. Im Gegensatz zur Regula falsi besteht beim Newton-Verfahren die grundlegende Idee darin, die gegebene Funktion in der Nähe der gesuchten Nullstelle durch eine Tangente anzunähern und dann die Nullstelle der Tangente als neue Approximation der Nullstelle der Funktion zu nutzen…«
»Sorry Kristen, ich bin zwar total beeindruckt, aber ich verstehe KEIN Wort. Du klingst wie ein lebendes Mathematiklexikon. Kannst du mir bitte mal verraten, weshalb du Stew. . . äh Flugbegleiterin werden willst, anstatt etwas aus diesem Talent zu machen? Rechnen muss man da oben in der Luft ja wohl eher selten, oder?«
»Darf ich mich setzen?«
»Bitte, das Bett gehört dir! Zumindest für ein paar Minuten.«
Kristen machte ein ernstes Gesicht und sah aus, als würde sie mit sich ringen. »Weißt du irgendetwas über meinen Vater?«
»Nur dass er tot ist, ansonsten nichts.«Ich schüttelte den Kopf und wartete gespannt darauf, was Kristens Papa mit dem Mathe-Thema zu tun hatte.
»Mein Vater war Pilot!«
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff…
»Du denkst, dass du ihm nahe bist, wenn du diesen Beruf ergreifst?« Kristen nickte und hatte Tränen in den Augen. Ich betrachtete sie und bekam plötzlich unheimliches Mitleid. Wer hätte gedacht, dass sie genauso um jemanden trauerte wie ich.
»Wie lange ist das denn schon her… und wie… wie ist er gestorben?«, fragte ich mit zitternder Stimme. Mama war plötzlich wieder so präsent, als säße sie neben uns. Kristen räusperte sich und ihre Stimme zitterte, als sie antwortete: »Ich war sechs und Felicia fast acht. Er wurde von einem Auto überfahren, als er morgens für uns Brötchen holen ging. Der Fahrer hatte die rote Ampel übersehen und war einfach auf ihn zugerast. Er war sofort tot.«
Ich konnte nicht anders, ich musste Kristen einfach in den Arm nehmen. Seine Mutter wie ich mit fünfzehn zu verlieren, war schon hart genug.
Aber wenn man noch so klein war…
Außerdem hatte ich mich wenigstens noch von Mama verabschieden können und war in ihren letzten Stunden bei ihr gewesen.
Als hätte Kristen nur darauf gewartet, endlich mal ihren Gefühlen freien Lauf lassen zu können, fing sie sofort an zu weinen, bis mein Pulli ganz nass war. Ich hielt sie umschlungen, während sie die ganze Zeit wie Espenlaub zitterte. Um sie zu beruhigen, strich ich ihr übers Haar und murmelte: »Alles wird wieder gut, du wirst sehen!« Selbst der Beo schien betroffen und setzte sich direkt neben sie. »Guck mal, er will dich auch trösten«, sagte ich, während ich gegen meine eigene Trauer ankämpfen musste. Es gab Tage, an denen so viel passierte, dass ich kaum an Mama dachte.
Und es gab Tage, an denen ich das Gefühl hatte, die Welt sei mit ihrem Tod stehen geblieben. »Trösten, trösten«, krächzte La Perla und nun musste Kristen lachen. »Der kann ja richtig süß sein«, strahlte sie und betrachtete meinen Vogel, der daraufhin eitel auf der Tagesdecke auf und abspazierte. Sein schwarzes Gefieder schimmerte im Licht meiner Schreibtischlampe und der gelbe Schnabel leuchtete.
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