Cinderella undercover
wohnte, die ganze Wohnung für mich allein. Zunächst tigerte ich ein Weilchen ziellos auf und ab, machte mir etwas zu essen, zappte ein bisschen durch ein mieses Fernsehprogramm und war dabei in Gedanken ganz woanders: Ich dachte an GG, an Paule, an meine geplanten Aktionen – und daran, dass gerade so viel im Umbruch war. Selbst Kristen hatte mir heute Morgen beim Frühstück erzählt, dass sie darüber nachdachte, den Gedanken an die Ausbildung als Flugbegleiterin an den Nagel zu hängen und stattdessen etwas anderes zu machen. GGs Motto Free your mind schien gerade bei allen an der Tagesordnung zu sein. Beflügelt von dieser Vorstellung beschloss ich, mit den Entwürfen für meine Bauzaun-Aktion zu beginnen, und ging in Paps Arbeitszimmer. Das Papier lag in einem Regalfach neben seinen CDs. Plötzlich bekam ich Lust, mir seine Sammlung ein bisschen genauer anzusehen. Da war bestimmt auch etwas dabei, was er gehört hatte, als er so alt war wie ich. Ich schnappte mir ein paar CDs, die mir spontan ins Auge fielen, und nahm sie mit in mein Zimmer.
Als Erstes legte ich die Doors in meinen Player – wie gut, dass Paps seine Vinyl-Platten irgendwann verkauft und durch moderne Technik ersetzt hatte. Als die Regentropfen aus dem Intro von Riders on the storm allmählich zu einem bedrohlichen Gewitter aufbrausten und die ersten Klänge der Orgel ertönten, war ich völlig fasziniert und fühlte mich beinahe high.
Wie genial war das denn?
Endlich mal kein getunter Pop-Mist, bei dem ein Stück wie das andere klang und auf dessen Video-Clips sich halb nackte, überschminkte Girlies an der Poledance-Stange rekelten.
Das war echte Musik – Gänsehaut pur!
Nach Break on through to the other side ließ ich mich von Light my fire in Brand setzen und tanzte später zu den Klängen von Steppenwolf’s Born to be wild durch mein Zimmer, warf meine Haare wild hin und her und spielte Luftgitarre dazu.
La Perla umflatterte mich und schrie ebenfalls: »Borntobewild! Borntobewild!«, bis mir vor Lachen die Tränen kamen und ein unendliches Glücksgefühl mich durchströmte. Bislang hatte ich immer geglaubt, diese Art von Musik sei absolut nichts für mich, doch das Gegenteil war der Fall.
Paps hatte Geschmack und wusste, was gut war!
Ob er wohl noch ein Bier im Kühlschrank hatte?
Er hatte eines und ich wünschte mir, so cool, »wild und gefährlich« zu sein, dass ich den Kronkorken mit den Zähnen öffnen konnte. Solange ich allerdings Cynthia Aschenbrenner war, brauchte ich dafür leider immer noch einen Flaschenöffner.
Mit der Bierflasche in der Hand tanzte ich in meinem Zimmer herum – mittlerweile angelangt bei Queen und Songs wie I want to break free und natürlich We are the champions .
Angefixt von der Musik – und ja, ich geb es zu – auch ein bisschen vom Bier – begann ich, wie im Rausch zu zeichnen und zu malen. Innerhalb weniger Stunden entstanden Bilder, wie ich sie noch nie zuvor zustande gebracht hatte.
Alle stellten irgendeine Form von Verwandlungen dar: Ich zeichnete eine Raupe, die zum Schmetterling wurde, ein flaumiges Küken, das zum stolzen Schwan heranwuchs, eine Miesmuschel, die sich zur Perlenauster wandelte, Frauen mit Leopardenköpfen, einen Panther, der Gitterstäbe auseinanderbog, eine Rakete und vieles mehr.
Als ich um ein Uhr morgens aufgedreht, gleichzeitig todmüde, überglücklich und total durchgeknallt im Bett lag, hatte ich an die dreißig Motive gemalt. Bunt, schräg, ausdrucksstark – und was das Wichtigste war – beim Malen waren alle Barrieren und Schranken in meinem Kopf gefallen. Professor Rohrbach wäre mit Sicherheit stolz auf mich gewesen!
Ich hatte das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, hundert Prozent ich selbst zu sein.
Und ich konnte es kaum erwarten, Samstagnacht loszuziehen und meine Motive an den Bauzaun zu kleben.
Auch wenn ich es alleine tun musste, denn jetzt hatte ich keine Angst mehr!
25.
Unfassbar, wie leicht es war, unbemerkt aus unserer Wohnung zu kommen! Es war zwei Uhr morgens, ich hatte meine Tasche mit den Bildern, dem Kleister, einer Flasche Wasser, einem Eimer und einer Bürste gepackt und wieder das Outfit gewählt, das GG für mich genäht hatte. Auf Zehenspitzen schlich ich die Treppe hinunter. Altbau war ja leider unglaublich hellhörig und ich war überhaupt nicht scharf darauf, jetzt jemandem im Hausflur zu begegnen. Unten angekommen packte ich meine Utensilien in den Fahrradkorb und schwang mich auf den Sattel, um in Richtung Michel
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