Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Plan stehen?
Nur eines ist sicher: Nirgends lassen sich Verdachtsmomente und Verschwö rungstheorien besser kultivieren als unter mehrwöchiger Gefangenschaft in der Fensterlosigkeit eines Kellerraums.
Ich sehe auf meine mechanische U hr, lege sie ans Ohr und lausche dem feinen Geräusch des Werks. Quarzuhren haben mir nie behagt; diese Abruptheit, mit der sie den Fluss der Zeit zerlegen in kleine Segmente. Der Preis dafür ist, dass ich meine Uhr täglich aufziehen muss, und dass sie mit jedem Tag ungefähr vierzig Sekunden vorgeht, um die ich sie zurückstelle. Wie genau sie die Zeit noch anzeigen mag? Der Gedanke, ich könnte vergessen, das Werk aufzuziehen, und wüsste, wenn die Uhr stehen bliebe, nicht mehr, wie spät es ist und wie viel Zeit vergangen sei, er macht mir Angst. Vielleicht verstellen sie die Zeiger, während ich schlafe, die Uhr neben dem Bett?
Jenseits aller Paranoia gibt es eine zentrale Frage, die eine größere praktische Bedeutung besitzt: Warum werde ich hier gefangen gehalten? Ist es Selbstschutz oder ein perfider Plan, haben sich meine Entführer am Ende dieses abschüssigen Weges darauf besonnen, schlicht Lösegeld zu verlangen?
Meine Befü rchtung ist eine andere: Dass sie nach wie vor auf der Suche sind nach einer letzten Wahrheit, die es nicht gibt, und sich von mir einen Beitrag dazu erwarten, den ich nicht werde leisten können. Dass sie weiterforschen werden, auch wenn ich nicht mehr da wäre, um ihnen zu sagen, dass all das eine Erfindung ist, eine Lüge. So wie manche Menschen ihr ganzes Leben einer Legende widmen, dem Geheimnis der Herstellung von Gold, des Heiligen Grals, von Avalon oder des ewigen Lebens. Je mehr Zeit sie damit verbringen, desto unmöglicher wird es ihnen, davon abzulassen. Wie bewegt man jemand dazu, eine Idee zu vergessen?
Wir sind Muster im Gewebe des Lebens, Wellen auf einem See, die eine Strecke zurücklegen, vielleicht reflektiert werden, bevor sie abklingen und in anderen Wellen aufgehen. Interferenzen, Strukturen, Verklumpungen vielleicht eher, Töne in einer Musik, die wir nur ahnen können, und die so viel vollkommener und ideenreicher ist als alles, was unserem Geist entspringt. Wären wir nicht so vernarrt in unser eigenes kleines Ich, in unsere unvollkommene Identität, mit ihren Eitelkeiten und ihrer Selbstbezogenheit, es wäre ein Leichtes, zu gehen, wenn es soweit ist. Aber wir sind, wie wir sind, und ich bin keine Ausnahme.
Also schreibe ich weiter, in der Hoffnung, meiner Erfindung ein Stü ck Wahrheit entgegensetzen zu können.
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Die ganz großen Lügen schöpfen ihre Kraft aus der Nähe zu Wahrheiten, auf die sie sich beziehen: Mit nichtssagenden Phrasen wie nach ein wahren Begebenheit, oder indem sie Behauptungen dementieren, die nie gemacht wurden. Ich atmete auf, als der Wachwechsel vollzogen war und Dommel sich auf dem Heimweg befand. Schlager sprach nur das Nötigste mit mir. Vermutlich wäre es eine gute Idee gewesen, mit ihm zu reden, vielleicht sogar, ihm die ganze Geschichte zu offenbaren und eine Schimpfkanonade auf Wienerisch über sich ergehen zu lassen: Denn er war der Einzige, von dem ich sicher wusste, dass er mir eine Selbstanklage unbesehen glauben würde. Es wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen, um dieses sich schneller drehende Karussell zu verlangsamen, wenn nicht sogar zu stoppen. Aber ich fand die Kraft nicht, spürte Druck im Kopf, dazu ein Gefühl wie von Wasser in den Ohren, das jedem Gespräch eine dumpfe Note verlieh. Ich brauchte Zeit, mich zu besinnen und alles zu überdenken, am besten ein paar Tage, in denen ich von Geheimniskrämerei, verborgenen Hinweisen und Rätselfragen verschont bliebe. Zeit, das Geschehen zu verarbeiten – insbesondere jenes der letzten vierundzwanzig Stunden. Mein noch immer ausgestecktes Telefon in der Wohnung kam mir in den Sinn, und ich verspürte so etwas wie Heimweh.
Immerhin verlief die Nacht relativ ruhig, trotz Fehlalarmierung um halb zwei; gegen vier dann eine Ausfahrt wegen Verdachts auf Schlaganfall, die mir kaum in Erinnerung geblieben wä re, wenn wir nicht beide die Adresse verwechselt und uns heillos verfahren hätten. Der Straßenname klang nah und vertraut, stand aber nicht angeschrieben, wo wir ihn vermutet hatten. Statt den Irrtum gleich zu korrigieren, kurvten wir erst ein wenig auf gut Glück in der Nähe des vermeintlichen Einsatzortes herum, bevor Schlager zur Karte griff und lapidar feststellte, dass wir uns im falschen Stadtteil befanden.
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