Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Endlich angekommen, erkundigte sich eine besorgte Frau zu Recht, warum das denn so lange gedauert habe, und obwohl unser Fehler ohne Auswirkungen blieb und wir kaum miteinander sprachen, spürte ich, dass Schlager nicht weniger zerknirscht war als ich selbst. Ich stellte mir vor, was Natalia, die Perfektionistin, denken würde, wenn sie das miterlebt hätte, und tröstete mich damit, dass sie von unserer Irrfahrt wohl kaum etwas erfahren würde.
Spä ter kauften wir für das Frühstück ein, und mit dem neuen Tag taute Schlager wieder ein wenig auf. Die Wolken zogen immer noch schnell über einen zerrissenen Himmel, aber der Wind hatte etwas nachgelassen, und nach Tagen brach die Sonne wieder durch. Mit dem Morgenlicht kehrte auch eine Ahnung des unkomplizierten, unbeschwerten Heimatgefühls wieder, das mir die Wache früher vermittelt hatte.
Gegen Mittag schlugen die Funkmelder einmal mehr an. Im auf das Alarmierungssignal folgenden Rauschen die Kurzinformation der Leitstelle: Kindernotfall.
Wenn wir ausfuhren, und sei es selbst zu einer Reanimation, dann erfolgte die Anfahrt stets kontrolliert und professionell. Rote Ampeln missachten: mit nic ht mehr als Schrittgeschwindigkeit, so das Gesetz. Das war lähmend langsam, wenn man sich wirklich daran hielt; es war fast ein Gefühl wie Stillstand.
Bei einem Kindernotfall hielt sich niemand mehr daran. Schlager hä tte ich es eventuell zugetraut, so sachlich und sarkastisch, wie er sich oft präsentierte, aber auch er unterlag den Bildern im Kopf von bleichen Kindergesichtern und verzweifelten Eltern. Keine ironischen Bemerkungen, keine Witze mehr. Ich sah ihn von der Seite an, wie er, blass und konzentriert, beschleunigte, bremste, auswich und schaltete, den behäbigen Dieselmotor quälte und die Augen hektisch schweifen ließ auf der Suche nach unachtsamen Verkehrsteilnehmern und anderen Gefahrenmomenten. Wenn es eine Zeit gegeben hatte, zu der die Autofahrer einem Kranken- oder Rettungswagen im Einsatz respektvoll ausgewichen waren, dann war diese offensichtlich vorbei: Zu alltäglich war das Unglück. Aus vielen Fahrmanövern, Gesten und verärgerten Blicken sprach die Überzeugung ich hab’s auch eilig, na und ? Und wer für sich selbst den größten Spielraum im Straßenverkehr in Anspruch nahm, was Verkehrsregeln und Geschwindigkeit anging, tat sich mit dem kleinsten Zugeständnis umso schwerer.
Ich dachte, wenn man schon darauf aus ist, Menschen zu beurteilen, dann reichen zwei Kategorien: Es gibt die, die mehr von sich selbst fordern als von anderen, und jene, bei denen es umgekehrt ist.
Das brachte mich wieder zurü ck zu Schlager, der auf der flussnahen Verbindungsstraße mit ihren unmotivierten Neunziggradkurven beherzt das Gaspedal durchtrat, und dessen Sarkasmus mich oft abstieß. Es war offensichtlich, dass ich ihm Unrecht tat; von all den Menschen auf der Wache war er der Einzige, der sofort erkannt hatte, was mir erst nach und nach bewusst wurde: dass die Legende vom Circulus Finalis , so wie viele komplexe Ideen, einen menschenverachtenden Aspekt beinhaltete.
Der Unfallort lag in einem der entlegensten Teile dieser zersiedelten Stadt, nahe dem groß en Fluss auf dem Gelände einer ehemaligen Kiesgrube, die man halbherzig zu einem Freizeitareal umgewidmet hatte. Auch deshalb gab es Grund zur Eile; normalerweise wäre hier schon der Rettungsdienst der Kleinstadt im Norden zuständig gewesen, aber vermutlich war dort kein Fahrzeug frei. Wir wussten nichts über die Art des Notfalls, aber das, was wir wussten, ließ Raum für düstere Spekulationen.
Ein Junge und ein Mä dchen, beide vielleicht zehn Jahre alt, erwarteten uns am Tor, das war bemerkenswert vorausschauend. Mit einem Spezialschlüssel öffnete ich die Zufahrt. Die Kinder konnten kaum sprechen vor Entsetzen, aber es war schnell klar, womit wir es zu tun hatten.
Auf dem groben Kies am Rande der Grube lag ein Junge gleichen Alters, dessen Kleidung vö llig durchnässt war. Die Kiesgruben hier am Fluss hatten eine gewisse Tiefe, und jetzt, Mitte Februar, betrug die Wassertemperatur vermutlich nur einige Grad über null. Es war ein kleines Wunder, dass es den übrigen Kindern gelungen war, den Jungen aus dem Wasser zu bergen. Zwei von ihnen waren ebenfalls durchnässt und zitterten, ansonsten aber augenscheinlich wohlauf. Am Ufer lag ein hölzernes Boot, in dem ein etwa siebenjähriges Mädchen sich an die Sitzbank klammerte und haltlos weinte. Das gefiel mir nicht, das Boot war kaum
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