Circulus Finalis - Der letzte Kreis
lag und sich das wenige Licht auf ihren halb geschlossenen, feuchten Augen spiegelte, war mir bewusster als je zuvor, dass sie nicht mit mir schlief, sondern mit dem Hubschraubermann, mit dem Boten Sarazuls, mit dem Rettungsassistenten. So gesehen war ich eine gute Partie. Die Erkenntnis war nicht ganz neu, es hatte mich in der Vergangenheit nicht gestört, und es störte mich auch in diesem Augenblick nicht übermäßig. Nur später dann, in der Nacht, wachte ich mehrfach auf, spürte sie neben mir und dazu den Wunsch, einfach zu gehen.
Doch wohin? Ich war ja zu Hause.
Ich trä umte -
Irgendwie weiß ich, dass der Mittsommertag nicht mehr fern ist, und doch sieht alles mehr nach November aus. Heftige Windstöße fegen durch die Straßen, Perlschnüre von Regen durchziehen die Luft, und der Himmel ist von tiefen, schnell fliehenden Wolken bedeckt. Es ist noch nicht Nacht und doch brennen alle Lichter schon, so wenig durchlässig sind die Wolkenschichten für das verbliebene Tageslicht.
Ich sitze in der Straß enbahn, auf dem hintersten Platz, der gegen die Fahrtrichtung zeigt, und sehe zu, wie regennasse Schienen, unregelmäßiges Kopfsteinpflaster und kaum erkennbare Straßenmarkierungen zurückbleiben, als wären sie der Ausstoß des langgestreckten, mehrgliedrigen Ungeheuers. Ich werde gewahr, dass, von der Seite her, jemand zu mir hersieht.
Eine blasse Gestalt, ei n Mädchen, das sehe ich aus dem Augenwinkel. Ihr Blick hat etwas Absichtsvolles. Ich drehe mich ein wenig und hebe den Kopf, und für einen Augenblick sehe ich ihr ins Gesicht.
Sie macht keinen Versuch, wegzuschauen. Stattdessen bin ich es, der erschrocken den Kopf wieder senkt. Aus ihrem Blick spricht eine abgründige Feindseligkeit, ein Hass, wie er mir noch nie begegnet ist.
Ihr Blick hat eine Spur auf meiner Netzhaut hinterlassen, die nur langsam verblasst, er stöß t mich ab und zieht mich doch an. Ich hebe wieder den Kopf, um ihre Augen zu suchen.
Sie sind da und warten auf mich. Daneben ist es schwer, etwas anderes auszumachen; alles andere an ihr scheint blass und merkwü rdig konturlos. Sie ist weiß gekleidet und hat die Gestalt eines vielleicht zwölfjährigen Kindes.
- Kennen wir uns, frage ich, ohne die Stimme am Ende des Satzes anzuheben, so dass eine verdrehte Aussage entsteht, auf der die Stille lastete. Vor dem Hintergrund des gleichmäß igen, schleifenden Geräuschs der Räder klingen meine Worte merkwürdig fade.
- Habe ich dir etwas getan?
- Ich tue dir etwas, sagt sie, mit einer gepressten, leisen Stimme.
- Ich zerstö re dich.
Die Bahn fä hrt ruckend in eine Kurve, ich spüre die Fliehkraft am Körper und habe einen Moment lang das Gefühl, auf sie zuzustürzen, auf ihre fremden, feindlichen Augen. Die Bahn fängt sich wieder in einer geraden Spur.
- Ein Stü ck von deinem Herzen entreiße ich dir für jeden Gedanken und jede Tat, an der dein Herz nicht beteiligt ist.
- Bis nichts mehr ü brig ist, frage ich sie. Sie sieht mich nur wieder wütend, nein, hasserfüllt an.
Erst jetzt sehe ich, oder ist ihre Hand eben noch leer gewesen, dass sie etwas hä lt: Etwas, das in gewachstes Papier eingewickelt ist, wie man es beim Fleischer bekommt. Dunkle Flecken von Feuchtigkeit zeichnen sich darauf ab.
Es wird Zeit für mich auszusteigen. Bemüht, meinen Blick fest auf die Tür gerichtet zu halten, kann ich doch nicht anders: Als die Tür sich mit dumpfem Geräusch öffnet, blicke ich zurück, genau in die brennenden Augen. Beinahe falle ich die Stufen hinunter, mit schnellen Schritten gehe ich fort von der Bahn und weiß doch, das Mädchen wird mir nicht folgen. Wozu auch? Was gäbe es noch zu sagen?
Der Wind fährt durch die Kronen der Bäume und schüttelt einen feinen Schleier von Wasser aus den regennassen Zweigen, Tropfen laufen über meine Stirn und Wangen, die Nasenflügel hinab und den Mundwinkeln zu. Ich neige den Kopf ein wenig nach hinten und sie sammeln sich an der Oberlippe. Ich öffne den Mund und nehme sie mit der Zunge in mich auf. Auf einmal schmecken sie nach Meer und Himmel und Wolke, nach Baum und Zweig und Blatt, nach Leben und, ja, sogar nach Sommer.
25
Als ich wieder aufwachte, war Natalia bereits im Begriff zu gehen, und ich stellte mich benommener, als ich war, um ihr den Abschied zu erleichtern. Sie drückte mir einen Kuss auf die Schläfe und stellte ein Glas Wasser ans Bett; das war etwa so viel Fürsorge, wie ich vertrug, und das wusste sie vermutlich.
Kaum, dass sich die Tü r
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