Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Verpflichtung zu hohen Geschwindigkeiten, denn seinem Verständnis nach konnte man nicht Vorrang signalisieren und dann mit Spielstraßentempo dahinschleichen. An einer Brücke, weniger als einen Kilometer vor dem Krankenhaus, wich ein vor uns fahrender Wagen nicht schnell genug aus, und Tann musste nach rechts ziehen, die Bordsteinkante hinauf. Unsere Patientin schrie auf.
Mit Mü he beherrschte ich meinen Ärger, um einen unprofessionellen Streit vor Publikum zu vermeiden. Nachdem wir ohne weitere Zwischenfälle das Krankenhaus erreicht und unser Unfallopfer in der Notaufnahme der Obhut des diensthabenden Arztes übergeben hatte, schlenderte Tann pfeifend zurück zum Auto.
Zitternd vor Wut sehnte ich die Distanz herbei, die mir in einer frü heren Zeit gelegentlich bedauerlich erschienen war. Ich suchte nach einer Entschuldigung für sein Verhalten zu finden, aber ohne Erfolg, und es war mir einerlei, war mir egal. Die Missachtung meiner Anweisung und die bei einer solchen Verletzung lebensgefährliche Rücksichtslosigkeit war alles, was ich noch sah. Ich stellte ihn zur Rede, und da ich keine Reaktion feststellen konnte, machte ich mehr Worte als nötig.
Irgendwie hatten sich unsere Rollen vertauscht: Er, der impulsive, rotgesichtige, der bei jeder Gelegenheit lospolterte, sah mich prü fend an, das Kinn dabei leicht angehoben und ohne jede erkennbare Regung. „So“, erwiderte er nur. „Meine Fahrweise sagt dir also nicht zu.“ Er ging ruhigen Schrittes zum Auto, öffnete die Fahrertür, und hielt inne. „Könnte sein, mir passt auch manches nicht, was du tust. Und anderen auch nicht.“
Der Rettungswagen schwankte leicht, als er einstieg und die Tü r zuschlug. Ich nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz, inzwischen wieder etwas ruhiger. „Das ist unsere Arbeit “, bemühte ich mich, auf eine sachliche Ebene zurückzufinden. „Warum versuchen wir nicht, sie so gut wie möglich zu tun?“
Er lachte kurz. „ Und du bestimmst, wie das auszusehen hat, was?“
„ Ja. Wenn wir beide eingeteilt sind, bestimme im Zweifelsfall ich das. Als Rettungsassistent und Beifahrer.“
„ Na bin ich froh, dass wir das geklärt haben.“ Er blickte mich auf beunruhigende Weise amüsiert an. „Du siehst nicht gut aus. Fehlt dir etwas?“
Er grinste jetzt offen. „ Autorität vielleicht?“
Vermutlich hätte ich den weiteren Dienst mit ihm verweigern sollen. Aber stattdessen klammerte ich mich an das, was von meinem Alltag geblieben war.
Am Nachmittag versuchte ich zu schlafen; die Mü digkeit lag über meinem Körper wie eine allgegenwärtige, elektrische Spannung, die mit einer ungewöhnlichen Trockenheit der Haut einherging und es mir schwer machte, mich auf irgendetwas zu konzentrieren, geschweige denn auf meine Situation. Dennoch gelang es mir nicht, einzuschlafen. Es war, als hätte ich die Fähigkeit verloren, das wache Bewusstsein loszulassen.
Die Funkmelder erlösten mich von dem Versuch, vom wiederholten Wechsel von der linken auf die rechte Seite und zurück; Unfall in einer Gärtnerei. Schweigsam, aber ohne weitere Feindseligkeiten stiegen wir ins Auto.
Unfall in einer Gä rtnerei: Eine Hilfskraft, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, hatte das Glas der Treibhäuser mit Reinigungsbenzin gesäubert, zwischendurch eine Zigarette angezündet und sich damit dann wieder über den Eimer mit dem Benzin gebeugt. Es war schlimm, denn die Verbrennungen bedeckten vor allem Gesicht und Hände. Immerhin, unser Patient war bei Bewusstsein, wirkte relativ ruhig und klagte, vermutlich unter Schock stehend, nicht einmal über Schmerzen. Wir kühlten und deckten die stärksten Verbrennungen ab, der Notarzt legte einen venösen Zugang und gab vorsorglich Schmerzmittel.
All das nahm ich wie durch einen Schleier wahr, und fü r eine Weile schien es, als sei alles wieder so wie immer, als trennte mich von der Welt eine isolierende Schicht, für die ich dankbar war. Dann aber merkte ich, dass dieser Schleier von anderer Art war: Er betraf nur den groben Ablauf der Ereignisse, während Kleinigkeiten sich mit ungewohnter Unmittelbarkeit in den Vordergrund drängten. Der Geruch nach Benzin, der nicht nur über dem Unfallort hing, sondern auch in die Kleidung, in die versengten Haare, in die Haut des Mannes eingedrungen war, erinnerte mich an die Minuten vor Schlagers Tod. Dazu die Ausdünstungen der Haut, verbranntes Eiweiß, sich vermischend mit dem Latexgeruch der Einweghandschuhe. Ich spürte einen Anflug von
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