Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Übelkeit. Dort, wo die Haut oberflächlich unversehrt geblieben war, hatte sie in der Tiefe eine dunkelgraue Schattierung angenommen.
Mit der Leitstelle wurde kurz die Mö glichkeit besprochen, einen Hubschrauber anzufordern, letztlich entschied man jedoch dagegen, weil das Krankenhaus nah und der Transport im Grunde unproblematisch war. „Der Volldepp“, schüttelte Tann knapp außer Hörweite den Kopf und fragte dann scheinheilig: „Und, wie ist es genehm, soll ich ausnahmsweise mit Blaulicht fahren oder lieber im Schritttempo?“ Zwar bestand keine akute Lebensgefahr, aber die schweren Verletzungen an Gesicht, Händen, Mund und Augen machten das zu einer rhetorischen Frage.
Ich nahm seinen Spott kaum wahr. Gedanken gingen mir durch den Kopf wie Laufschrift, Erinnerungen an die Ausbildungs zeit, Erlerntes über das heimtückische Wesen der Verbrennungen: Die Vergiftungserscheinungen durch Rückstände verbrannter Eiweißverbindungen, die Geschwindigkeit, mit der die Hitze tief in das Gewebe eindrang. Die Infektionsgefahr. Unser Körper war bis zu einem gewissen Grad darauf eingestellt, mit Krankheitserregern und mechanischen Verletzungen umzugehen, aber gegen Verbrennungen besaß er keine Mittel.
Irgendwie schien mir all das einen Bezug zu meinen Problemen zu haben, der zufä llig war, aber deshalb nicht weniger eindringlich: Der mangelnde Respekt vor elementaren Kräften, das spielerische Bedürfnis nach Unterhaltung, das am Anfang des Unglücks stand. Die Geschwindigkeit, mit der das Geschehen sich entwickelte, Energien freigesetzt wurden. Die Unmöglichkeit einer Umkehr, die Tiefe der Schädigung; eine Vergiftung weit unter der Haut.
Im Krankenhaus wurden wir erwartet, die Rettungsleitstelle hatte uns angemeldet. Tann genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, die unsere Ankunft in der Ambulanz weckte. Mit demonstrativer Rücksichtslosigkeit eilte er durch die Gänge und verlangsamte seine Schritte nur, um einer Krankenschwester im Vorbeigehen zuzuzwinkern.
Die Übergabe ging rasch vonstatten, man würde unseren Patienten ohnehin auf die Verlegung in eine Spezialklinik vorbereiten. Es dunkelte inzwischen, ein schöner, klarer Frühabendhimmel, darin mit leichtem Zittern in der Kälte der Nacht erste Sterne. Wenig später wurden wir in ein italienisches Restaurant gerufen, auf dessen Fliesenboden ein Epileptiker sich wand. Blut verklebte bereits sein Haar, er hatte sich den Kopf offensichtlich schon mehrfach an einer Stufe angeschlagen. Daneben gemächlich speisende Gäste, deren Blick mit erstaunlicher Regelmäßigkeit zwischen ihrem Teller und dem zwei Schritte von ihnen entfernt Krampfenden hin und her pendelte, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, etwas unterzulegen, eine Jacke oder ein Stuhlkissen. Es roch nach frisch gemahlenem Pfeffer und Basilikum. Schlager kam mir in den Sinn, wie er einst auf die harmlose Forderung nach dem bewussten Genuss des Lebens einen seiner spontanen Wutanfälle bekommen und, Max Webers Zukunftsahnungen zitierend, auf „diese beschissene Carpe-Diem-Generation“ geschimpft hatte: Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz. Auf der Rückfahrt zur Wache fiel mir wieder ein, wie der Satz weiterging: Dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschtums erstiegen zu haben.
Wir hielten kurz, um Pizza mitzunehmen, unser Abendessen. Schon nach dem ersten Stü ck kehrte die Übelkeit vom Nachmittag zurück, und ich musste mehr als die Hälfte übrig lassen. Tann war ungeachtet unserer sonstigen Differenzen hilfsbereit und kümmerte sich um den Rest.
Erstaunlicherweise hatte sich keinerlei Besuch eingefunden, obwohl es Sonntag war. Vielleicht lag es am guten Wetter oder an der Karnevalszeit, die auch das Fernsehprogramm bestimmte. Schweigend saßen wir zu zweit da, während die Schellen klingelten und ein Tusch dem anderen folgte, Tann auf der Couch, ich auf dem Drehstuhl am Wachpult. Ich starrte die zwei Kopien mit den Strichzeichnungen aus der Kirche und vom Betriebsgelände an, die seit dem Morgen unbeachtet nebeneinanderlagen. Wieder und wieder bogen sich die Zuschauerreihen vor Lachen, die Kamera flog schnell darüber hin, während der Redner schon wieder bereit war, nachzulegen. Das alles mit einer gewissen Monotonie vorgetragen; kein Wunder, dass ich zunehmend weiter herunterrutschte auf meinem Stuhl. Die Augen hatte ich schon lange vom Fernseher abgewendet, sie ruhten unfokussiert auf den beiden Zeichnungen, hielten sich noch einen
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