Circus
Es war keine Menschenseele zu sehen, was Fawcett zunächst ziemlich überraschte, denn Wrinfield hatte ein vierbeiniges Vermögen da drin. Aber nach kurzem Nachdenken fand er es nicht mehr überraschend, denn niemand, der seine fünf Sinne beieinander hatte, würde einen indischen Elefanten oder einen nubischen Löwen stehlen wollen. Es war nicht nur schwer, mit ihnen fertig zu werden, auch ihr Verkauf dürfte sicherlich einigermaßen problematisch sein. Die meisten Tiere lagen schlafend in ihren Käfigen, aber die Elefanten wiegten sich unablässig hin und her, und in einem großen Käfig strichen zwölf bengalische Tiger ruhelos auf und ab und knurrten hin und wieder ohne erkennbaren Grund.
Fawcett ging auf Wrinfields Büro zu und blieb plötzlich erstaunt stehen, als er bemerkte, daß aus dem einzigen Fenster des kleinen Raumes kein Lichtschein nach draußen fiel. Dann ging er weiter und drehte versuchsweise am Türknopf: Die Tür war nicht versperrt. Er öffnete sie und spähte in den Raum, und dann wurde ihm schwarz vor den Augen.
3
W rinfield machte in dieser Nacht kaum ein Auge zu, was in Anbetracht der neuesten Ereignisse und der Sorgen, die sie mit sich gebracht hatten, kaum verwunderlich war. Schließlich stand er um fünf Uhr auf, rasierte sich und zog sich an, verließ sein luxuriöses Quartier an Bord des Zuges und machte sich auf den Weg zu den Tierkäfigen – wann immer er Schwierigkeiten oder Kummer hatte, waren sie sein erstes Ziel, denn er liebte seinen Circus und fühlte sich nirgendwo so aufgehoben wie dort. Der Grad der Kommunikationsfähigkeit zwischen ihm und seinen Tieren überstieg bei weitem den, den er im Umgang mit seinen Wirtschaftswissenschaftsstudenten erreicht hatte, denen er, wie er es jetzt sah, die besten Jahre seines Lebens geopfert hatte. Außerdem konnte er sich immer mit Johnny, dem Nachtwächter, die Zeit vertreiben, der trotz des großen Standesunterschiedes, der sie beide trennte, einer seiner ältesten Freunde und Vertrauten war. In dieser Nacht war Wrinfield allerdings nicht geneigt, überhaupt noch irgend jemandem zu trauen.
Aber Johnny war nicht da, und Johnny war kein Mann, der während der Arbeitszeit einschlief. Er hatte die Aufgabe, dem diensthabenden Wärter oder Tierarzt sofort Bescheid zu sagen, wenn mit einem der Tiere etwas nicht in Ordnung war. Wrinfields anfängliches Erstaunen steigerte sich im Laufe seiner gründlichen Suche zu ernster Besorgnis, und als er ihn schließlich in einer dunklen Ecke fand, erwies sich dieses Gefühl als nur allzu begründet: Johnny, ein älterer, verrunzelter und verkrüppelter Mann – er war einmal zu oft vom Seil gefallen –, war sorgsam verschnürt und geknebelt worden, aber er war am Leben, allem Anschein nach unverletzt und entsetzlich wütend. Wrinfield nahm ihm den Knebel aus dem Mund, band ihn los und half dem alten Mann auf die unsicheren Beine. Sein Leben beim Circus hatte Johnnys Wortschatz geprägt, und bei seiner folgenden Schimpfkanonade fehlte nicht ein einziger Kraftausdruck.
Nachdem er sich Luft gemacht hatte, fragte Wrinfield ihn: »Wer ist das gewesen?«
»Ich weiß es nicht, Boß. Es ist mir ein Rätsel. Ich habe überhaupt nichts gesehen. Und gehört auch nicht.« Vorsichtig rieb Johnny sich den Nacken. »Es fühlt sich an, als sei ein Sandsack darauf heruntergeknallt.«
Wrinfield untersuchte den runzligen Hals. Er war blutunterlaufen, aber nicht aufgeschürft. Wrinfield legte einen Arm um die zerbrechlichen Schultern. »Das war wirklich ein Sandsack. Komm mit. Setz dich zu mir ins Büro. Ich habe da was, das wird dich wieder auf die Beine bringen.«
Sie hatten gerade die Hälfte des Weges hinter sich, als Johnnys Schultern sich plötzlich unter Wrinfields Arm versteiften, und dann sagte er mit einer merkwürdig rauhen und angestrengten Stimme: »Ich glaube, wir haben noch etwas Wichtigeres für die Polizei als den Überfall auf mich, Boß.«
Wrinfield sah ihn fragend an und folgte dann dem Blick seiner weitaufgerissenen Augen: Im Käfig der bengalischen Tiger lagen die zerfleischten Überreste dessen, was einmal ein Mensch gewesen war. Nur an den paar Fetzen Kleidung, die noch übrig waren, und an den Ordensbändern erkannte Wrinfield, daß er das vor sich hatte, was die Tiger von Colonel Fawcett übriggelassen hatten.
Wrinfield starrte wie in Trance auf das geschäftige Treiben, das sich vor seinen Augen abspielte. Es war noch immer dunkel, aber es wimmelte von Menschen – Circusarbeitern,
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