Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Leuten, die zu ihrem Vergnügen auf Vögel schießen.«
Pandora dachte plötzlich an Alerion, der auf der St Paul’s Kathedrale auf sie wartete. Sie fror.
»Was tun wir jetzt, Mr Hardy?«, fragte sie schließlich.
»Wir werden Mr Sidereal und die Akademie genau im Auge behalten«, sagte er. »Und dann, wenn der richtige Augenblick gekommen ist, schnappen wir ihnen den Jungen vor der Nase weg.«
Das Himmelskabinett
Cirrus trat von dem kleinen Dachfenster zurück und betrachtete sich im Wandspiegel. Verschwunden waren seine derben braunen Findelhauskleider, stattdessen trug er jetzt eine silbrige Jacke mit blütenweißer Kniehose, glatt anliegende Strümpfe und Schuhe mit Silberschnallen. Sein Kostüm glich haargenau dem, das Bottle Top am Tag zuvor angehabt hatte – nur die bei dem Sturz so demolierten Flügel waren weggelassen worden. Sein Haar war sorgfältig gepudert und hinten mit einer Schleife zusammengebunden; Mrs Kickshaw wäre stolz, dachte er wehmütig, und plötzlich wurde ihm klar, dass er sie vermisste.
In der Ecke hinter ihm rangelten die anderen Jungen auf ihren Betten. Nur Bottle Top beteiligte sich nicht daran. Er saß allein da und zupfte Federn aus den Flügeln, die unbrauchbar auf seinem Schoß lagen.
Cirrus ging zu ihm hin. »Es tut mir leid«, sagte er zum hundersten Mal. »Ich wollte das nicht. Ich wünschte, ich müsste da nicht mitmachen.«
Bottle Top sah ihn aus dunkel geränderten Augen an, sagte aber nichts. Er stand nur auf und lief zur anderen Seite des Zimmers. Seinen linken Arm trug er in einer Schlinge.
Cirrus setzte sich auf die Bettkante. Er wusste nicht, warum die Kugel an seinem Hals so reagiert hatte wie gestern Abend und was der Auslöser gewesen war, er war nur froh, dass sie nicht mehr leuchtete. Mr Leechcraft glaubte irrtümlich, dass ihre ungewöhnliche Ausstrahlung etwas mit der Beschaffenheit seiner Seele zu tun habe, ›Tugend‹ nannte er das. Cirrus durfte gar nicht daran denken, was wäre, wenn die Kugel heute Abend nicht wieder genauso erstrahlen würde, noch dazu vor der Akademie. Wiederholt hatte Mr Leechcraft ihm heute erklärt, wie alles abzulaufen habe – Cirrus sollte Bottle Top als neuer Schwebender Junge ablösen –, doch für eine Probe war keine Zeit geblieben. Cirrus wusste nur, was Bottle Top ihm erzählt hatte: Elektrisiert werden fühle sich an, als würde man mit Millionen heißer Nadeln gleichzeitig gestochen.
Unten bimmelte eine Glocke, und Cirrus folgte den anderen Jungen die hölzernen Stufen hinunter zur Eingangshalle. Er ging langsam, eine Stufe nach der andern, und je näher sie der Tür kamen, desto stärker spürte er die Angst.
»Also, Jungs!«, sagte Mr Leechcraft, nachdem sie sich vor ihm aufgestellt hatten. »Wir dürfen heute Abend vor der Akademie der Naturwissenschaften auftreten. Das ist eine unermessliche Ehre für uns, ein wahrlich seltenes Privileg, und deshalb ist es von ganz entscheidender Bedeutung, dass ihr alles so macht, wie ich euch gesagt habe.«
Noch einmal schilderte er kurz den Ablauf der Vorführung, die Jungen hörten ungeduldig zu, und als schließlich eine von sechs weißen Pferden gezogene, golden schimmernde Kutsche vorfuhr, stürmten sie zur Tür hinaus.
»Ah, Mr Sidereal hat seine goldene Kutsche geschickt«, sagte Mr Leechcraft zufrieden lächelnd, während er Cirrus die Eingangsstufen hinunterführte.
Graue Wolken hatten sich am Himmel zusammengezogen und verdunkelten den Himmel. In der Luft hing Staub.
Cirrus hielt mit gemischten Gefühlen Ausschau nach dem Mann im Rollstuhl. »Wo ist Mr Sidereal?«, fragte er. Er konnte den vielsagenden Blick nicht vergessen, mit dem ihn der Mann gestern Abend gemustert hatte; es war, als hätte er direkt durch ihn hindurchgesehen – bis zu dem Erkennungszeichen unter seinem Hemd. Und wieder tastete er nach der Kugel, um sich zu vergewissern, dass sie sicher versteckt war.
»Mr Sidereal lässt sich entschuldigen«, sagte Mr Leechcraft. »Er erwartet uns in der Akademie.«
Gefolgt von den anderen Jungen stieg Cirrus in die Kutsche, und Mr Leechcraft zwängte sich neben ihn. Seinen Kleidern entströmte einen üppiger moschusartiger Geruch, er hatte sich für den heutigen Anlass reichlich parfümiert.
»Na, heute sind die Straßen ja mit Gold gepflastert!« sagte er, als er den bernsteinfarbenen Schimmer in der Luft sah. Mit einem Ruck fuhr die Kutsche an.
Cirrus hätte gern die Vorhänge vor die Fenster gezogen und sich im Dunkeln abgeschottet,
Weitere Kostenlose Bücher