City of Lost Souls
keinen Vorwurf machen, dass er schlief – schließlich war es nach vier Uhr morgens.
Er stellte die Flasche in den Kühlschrank zurück und ging in sein Zimmer. Dies war seit einer Woche das erste Mal, dass er wieder zu Hause schlief. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, mit jemandem das Bett zu teilen und einen warmen Körper neben sich zu spüren, gegen den er sich nachts anlehnen konnte. Es gefiel ihm, wie Clary sich im Schlaf an ihn schmiegte, zusammengekuschelt und den Kopf auf ihre Hand gelegt. Und ehrlich gesagt gefiel es ihm auch, dass sie nicht schlafen konnte, solange er nicht bei ihr war. Dadurch hatte er das Gefühl, unentbehrlich zu sein und gebraucht zu werden – auch wenn die Tatsache, dass es Clarys Mutter offenbar nicht kümmerte, ob er im Bett ihrer Tochter schlief oder nicht, deutlich dokumentierte, dass Jocelyn ihn anscheinend für eine ebenso große sexuelle Gefahr hielt wie einen Goldfisch.
Natürlich hatten Clary und er schon oft das Bett geteilt, vor allem im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. Wahrscheinlich trug das auch zu Jocelyns Gelassenheit bei, sinnierte er und drückte die Tür zu seinem Zimmer auf. Die meisten dieser Nächte hatten sie mit so leidenschaftlichen Aktivitäten verbracht wie etwa einem Wettstreit, wer am längsten dafür brauchte, ein Erdnussbuttertörtchen zu verputzen. Oder sie hatten einen tragbaren DVD-Player mit ins Bett geschmuggelt und …
Er blinzelte verblüfft. Sein Zimmer sah zwar aus wie immer: kahle Wände, Stapelregale aus Kunststoff zum Aufbewahren seiner Kleidung, seine Gitarre, die an einem Haken an der Wand hing, und eine Matratze auf dem Fußboden. Aber auf dem Bett lag ein Blatt Papier, ein weißes Quadrat vor dem dunklen Hintergrund des durchgescheuerten schwarzen Bettbezugs. Und Simon kannte die rasch hingekritzelte Handschrift – sie stammte von Isabelle.
Er nahm den Zettel und las:
Simon, ich hab versucht, dich anzurufen, aber dein Handy scheint ausgeschaltet zu sein. Ich weiß nicht, wo du im Moment steckst. Und ich weiß auch nicht, ob Clary dir bereits erzählt hat, was heute Nacht passiert ist. Aber ich muss jetzt rüber zu Magnus’ Wohnung und hätte dich wirklich gerne bei mir.
Obwohl ich sonst keine Angst kenne, hab ich gerade große Angst um Jace. Ich fürchte um das Leben meines Bruders. Ich hab dich noch nie um einen Gefallen gebeten, Simon, aber ich bitte dich jetzt darum: bitte komm.
Isabelle.
Simon ließ den Brief aus der Hand fallen. Und er war bereits aus der Wohnung und auf dem Weg zur unteren Haustür, bevor das Papier auch nur den Boden berührte.
Als Simon Magnus’ Wohnung betrat, empfing ihn Stille. Nur im Kamin knisterte ein Feuer. Magnus saß auf einem der schwer gepolsterten Sofas, die Füße auf den Couchtisch gelegt, während Alec fest schlief; sein Kopf ruhte in Magnus’ Schoß. Der Hexenmeister starrte nachdenklich in die Flammen, als schaute er in die Vergangenheit, und zwirbelte dabei geistesabwesend eine von Alecs schwarzen Haarsträhnen. Bei diesem Anblick musste Simon an das denken, was Magnus ihm einmal zum Thema Unsterblichkeit gesagt hatte – Eines Tages werden wir zwei die Einzigen sein, die noch übrig sind. Der Gedanke ließ ihn schaudern.
In dem Moment blickte Magnus auf. »Isabelle hat dich hergerufen, ich weiß«, sagte er mit gesenkter Stimme, als wolle er Alec nicht wecken. »Sie wartet im Gästezimmer auf dich: durch den Flur und die erste Tür links.«
Simon nickte Magnus noch kurz zu und eilte dann in die angegebene Richtung. Er verspürte eine ungewohnte Nervosität, als würde er sich auf ein erstes Date vorbereiten. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Isabelle ihn noch nie um seine Hilfe oder seine Anwesenheit gebeten oder ihm durch irgendetwas zu verstehen gegeben, dass sie ihn brauchte.
Zögernd drückte er die Tür zum ersten Raum auf der linken Seite auf und trat ein. Im Zimmer herrschte vollständige Dunkelheit und ohne sein Vampirsehvermögen hätte Simon gar nichts gesehen. Doch nun erkannte er die Umrisse eines Kleiderschranks, mit Kleidungsstücken übersäte Sessel und ein Bett mit zerwühlter Bettdecke. Isabelle lag auf der Seite und schlief; ihre schwarzen Haare waren wie ein Fächer über das Kopfkissen ausgebreitet.
Simon hielt inne und betrachtete das Mädchen mit großen Augen. Er hatte Isabelle noch nie schlafend gesehen. Sie wirkte jünger als sonst: Ihre Gesichtszüge waren entspannt, ihre langen Wimpern streiften ihre hohen Wangenknochen und ihr Mund
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