City of Lost Souls
fragte sich, ob wohl noch ein anderes Mädchen hier lebte oder ob Sebastian seit Neuestem lieber Frauenkleidung trug. Doch an sämtlichen Kleidungsstücken hingen noch die Preisschilder und alle hatten Clarys Größe. Aber damit nicht genug, dämmerte es Clary langsam – die Kleidung zeichnete sich auch durch exakt die Schnitte und Farben aus, die ihr besonders gut standen: Blau-, Grün- und Gelbtöne und für eine zierliche Figur geschnitten. Schließlich nahm Clary eines der etwas schlichteren Oberteile aus dem Schrank, eine dunkelgrüne, kurzärmlige Bluse mit Seidenrüschen an der Knopfleiste. Rasch zog sie ihr Sweatshirt aus, streifte die Bluse über und betrachtete sich im Spiegel in der Schranktür.
Sie passte perfekt … sie schmiegte sich um ihre Taille und machte dadurch das Beste aus ihrer zierlichen Figur. Außerdem betonte das Grün ihre Augen. Mit einem Ruck riss Clary das Preisschild ab, weil sie nicht sehen wollte, wie viel die Bluse gekostet hatte, und eilte aus dem Zimmer, wobei ihr ein Schauer über den Rücken lief.
Beim nächsten Raum handelte es sich eindeutig um Jace’ Reich – das erkannte Clary im selben Augenblick, in dem sie es betrat. Denn das Zimmer roch nach ihm, nach seinem Eau de Toilette, seiner Seife und dem Duft seiner Haut. Außerdem war es so aufgeräumt wie sein Zimmer im Institut: Das schwarz gebeizte Bett mit dem weißen Bettzeug tadellos gemacht, alle Bücher ordentlich gestapelt und nach italienischen, französischen und lateinischen Titeln sortiert. Der Silberdolch der Herondales mit dem Vogelmuster auf dem Heft steckte in der verputzten Wand. Als Clary näher trat, konnte sie erkennen, dass er ein Foto aufgespießt hatte. Ein Foto von Jace und ihr, das Izzy aufgenommen hatte. Clary erinnerte sich noch genau an den Moment: ein klarer Tag Anfang Oktober, Jace hockte auf den Stufen vor dem Institut, ein Buch auf dem Schoß. Sie selbst saß eine Stufe über ihm, eine Hand auf seiner Schulter und leicht vorgebeugt, um einen Blick auf seine Lektüre zu werfen. Seine Hand lag geistesabwesend auf ihrer und er lächelte. Da sie an jenem Tag sein Gesicht nicht hatte sehen können, war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie umwerfend er damals gelächelt hatte … Der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. Sie beeilte sich, das Zimmer zu verlassen, und musste ein paarmal tief Luft holen.
So geht das nicht, ermahnte sie sich streng. Nicht jeder Anblick des jetzigen Jace durfte sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlen. Sie musste so tun, als würde es keine Rolle spielen – als würde sie überhaupt keinen Unterschied bemerken.
Entschlossen betrat sie den nächsten Raum, ein weiteres Schlafzimmer und etwa so groß wie das von Jace, doch im Gegensatz dazu herrschte hier ein schreckliches Chaos: Das Bett mit den schwarzen Seidenlaken und der Bettdecke war total zerwühlt, der Schreibtisch aus Glas und Edelstahl mit Büchern und Dokumenten übersät. Auf dem Boden und jeder anderen freien Fläche lagen Kleidungsstücke herum: Jeans und Jacken und T-Shirts und Teile einer Kampfmontur. Clarys Blick fiel auf etwas, das auf dem Nachttisch thronte und silbern glänzte. Langsam trat sie näher und starrte ungläubig darauf.
Es handelte sich um das kleine Kästchen ihrer Mutter. Das Kästchen mit den Initialen J. C. – dasselbe Kästchen, das Jocelyn einmal im Jahr hervorgeholt und über dessen Inhalt sie lautlos geweint hatte. Clary kannte den Inhalt des Kästchens nur zu gut – eine Haarlocke, so fein und weiß wie die Samen einer Pusteblume; Stofffetzen von einem Kinderhemdchen; ein Babyschuh, der so klein war, dass er mühelos auf Clarys Handfläche gepasst hätte. Erinnerungsstücke an ihren Bruder – eine Art Collage des Kindes, das ihre Mutter sich gewünscht hatte, von dem sie geträumt hatte, bis Valentin diesen Traum vernichtet und seinen eigenen Sohn in ein Monster verwandelt hatte.
J. C.
Jonathan Christopher.
Clarys Magen zog sich krampfhaft zusammen. Hastig machte sie kehrt und prallte gegen eine Wand aus Muskeln. Dann schlang sich ein Paar Arme fest um sie und Clary sah, dass sie schlank, aber muskulös waren, mit hellen Härchen auf leicht gebräunter Haut. Einen Augenblick dachte sie, Jace würde sie halten, und ihre Anspannung ließ nach.
»Was hast du in meinem Zimmer gemacht?«, raunte Sebastian ihr ins Ohr.
Isabelle war darauf trainiert, jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit aufzuwachen. Selbst ein leichter Kater konnte nicht verhindern, dass ihr innerer
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