Clancy, Tom
was ihnen
bevorstand, wenig im Vergleich zu dem, was sein eigenes Land hatte erleiden
müssen. Die tragische Geschichte seiner Missionarseltern war zwar faktisch
eine Lüge, aber im Prinzip gar nicht so falsch.
Die
Straßen Zagrebs, Rijekas, Osijeks und Dutzender anderer Städte waren seit
Jahrzehnten Schauplätze von Gewalt gegen Muslime, während der Westen nur zuschaute.
Was wäre geschehen, fragte sich Kaseke, wenn blonde, blauäugige Kinder in den
Straßen von London oder Los Angeles ermordet worden wären? Hätten sie da auch
zugeschaut?
Wie in der
E-Mail angewiesen, fuhr Kaseke seinen Ford Ranger, Modell 1995, zur
Trailways-Bushaltestelle in der Sycamore Street zwischen der Third Street und
Park Avenue. Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz von Doyles Pub ab, dann ging er zurück den Block
hinunter und betrat die Busstation. Der Schlüssel, den er vor einer Woche mit
der Post bekommen hatte, gehörte zu Schließfach 104. Drinnen fand er einen
dicken Pappkarton, der in braunes Papier eingeschlagen war. Er war schwer, fast
15 Kilo, aber die Verpackung war mit Gewebeband verstärkt. Das Papier trug
keine Beschriftung. Er holte den Karton heraus, stellte ihn zwischen seine Füße
auf den Boden und sah sich um, ob ihn jemand beobachtete. Dann wischte er mit
seinem Ärmel den Schlüsselgriff ab. Hatte er sonst etwas berührt? Irgendwo
Fingerabdrücke hinterlassen? Nein, nur am Schlüssel.
Kaseke
ging mit seinem Karton hinaus und zum Wagen zurück. Er stellte das Paket auf
den Beifahrersitz, stieg auf der anderen Seite ein und drehte den
Zündschlüssel. Dann überlegte er, ob er den Karton nicht lieber in den Fußraum
stellen sollte. Wenn er in einen Unfall geriet ... Nein, dachte er. Unnötig. Er wusste,
was in dem Karton war - jedenfalls hatte er nach dem Programm im Ausbildungslager
eine ziemlich gute Vorstellung davon. Sie hatten ihn für eine Aufgabe
trainiert, und nur für diese. Dieses Paket war völlig harmlos. Vorläufig.
Zu den Planungen des Emirs und des URC hatten sie dreierlei
Hinweise: Zum Ersten alte abgefangene E-Mails, die allerdings nicht sehr
ergiebig waren. Die einzige Ausnahme war eine Geburtsanzeige, die anscheinend
alle URC-Zellen sofort verstummen ließ und vielleicht auch einige
URC-Operationen in Gang setzte. Zweitens Hadi, einen Kurier, ein ganz neues
Gesicht im Spiel, und drittens den USB-Stick, den Chavez diesem Terroristen in
Tripolis abgenommen hatte. Da sich der URC der Steganographie bediente, hatte
ihnen die Auswertung der mit dem URC verbundenen Websites der letzten acht
Jahre nur Hunderte von Gigabytes an Fotos eingebracht. Eine Fünf-Kilobyte-Botschaft
zu suchen, die in einer zweihundertmal so großen JPEG-Bilddatei eingebettet
war, erwies sich jedoch als überaus zeitraubend und mühsam und hatte bisher
keinen Erfolg gehabt.
Auf die
neue vierte und erfolgversprechendste Spur kamen sie dann durch reinen Zufall:
ein Finger hatte einige Sekunden länger als beabsichtigt auf den Auslöser
einer Kamera gedrückt.
Von den
etwa zwei Dutzend Fotos, die Jack in Chicago von Hadi gemacht hatte, waren nur
drei wirklich brauchbar, auf denen das Gesicht des Kuriers gut beleuchtet im
Profil oder im Halbprofil zu sehen war. Es stellte sich jedoch heraus, dass für
den Campus weniger Hadis Gesicht von Interesse war als seine Hände. John
wusste, dass es bei der Ermittlungsarbeit oft weniger wichtig war, zu finden, wonach
man suchte, sondern das Material genau zu betrachten und zu analysieren.
»Ich meine
das hier«, sagte Jack und drückte auf die Vorwärtstaste seiner Fernbedienung.
Auf dem LCD-Bildschirm des Konferenzraums erschien das nächste Foto. Es zeigte
Hadi, wie er gerade aus dem Terminal ins Freie trat und dabei einen Mann
streifte, der zum Eingang der Flughalle unterwegs war. Ganz unten auf dem Bild
und im Schatten kaum sichtbar berührten sich Hadis Hand und die des Fremden.
Bei genauerem Hinsehen war zwischen den beiden Händen ein nicht näher zu
bestimmender Gegenstand zu erkennen.
»Eine
verdeckte Übergabe«, sagte Clark und lehnte sich nach vorn, um das Ganze
genauer zu betrachten. »Professionell gemacht.«
»Guter
Fang, Jack«, sagte Hendley.
»Danke,
Boss, aber es war einfach nur Dusel.«
»So etwas
gibt es nicht, Mano«, sagte
Chavez. »Wichtig ist das Ergebnis, egal wie man dazu kommt.«
»Also
kennen wir jetzt auch ein zweites Gesicht«, sagte Sam Granger. »Und was hilft
uns das?«
»Allein
für sich überhaupt nichts«, erwiderte Jack. »Aber das
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