Clara
Sie nahm den Faden wieder auf.
»Ich werde
morgen fünfundzwanzig, wie Sie ja wissen. An meine Kindheit kann ich mich kaum
erinnern. Aber das geht, glaube ich, den meisten Menschen so. Die ersten Jahre
sind einfach weg. Nur ein paar Fragmente blieben übrig .« Sie plauderte einfach drauflos. Irgendwie tat es ihr gut. Michael Gruber lehnte
sich zurück und hörte zu. Auch ihm schien es gutzutun .
Der Krieg hatte eine kurze Pause. »Ich hatte wohl die meisten gängigen
Kinderkrankheiten. Meine Nanny sagte das zumindest immer. Auch die Zeit im
Kindergarten ist sehr verschwommen. An das Laternenfest im Herbst kann ich mich
aber noch erinnern. Und an die alte Klosterschwester, die uns mit Strenge und
Güte gleichermaßen begegnete. Zur Schule ging ich die ersten Jahre sehr gerne.
Ich will nicht verschweigen, dass ich keine öffentlichen Einrichtungen besucht
habe, sondern private Institute, die richtig Geld kosteten .« Sie wollte ihm damit den Wind aus den Segeln nehmen. Mit Aufrichtigkeit
punkten. Er quittierte es mit einem kurzen Nicken.
»Also, in
der Schule lief es anfangs recht gut. Ich lernte schnell. Unterstützt von einem
zusätzlichen Privatlehrer, der mich daheim betreute. Mein Vater war oft bis
spät abends in der Firma. Und meine Mutter. Na ja.« Michael setzte sich auf. Er
forderte sie gestenreich auf, dieses Thema zu vertiefen. »Ich glaube, meine
Mutter hat mich nicht geliebt. Aber ich habe das längst überwunden. Sie war zu
sehr mit Einkaufen und Freundinnen beschäftigt. Und schließlich war da ja der
Lehrer. Und das Kindermädchen. Sie war also entlastet. Von der ermüdenden
Pflicht entbunden. Ich glaube, meine Mutter hat nie jemanden geliebt. Weder
mich noch meinen Vater. Sie hat mit meiner Geburt, über die ich sie niemals
sprechen hörte, ihre Schuldigkeit getan. Und kassierte anschließend nur mehr
ihren Lohn dafür. Ich schätze, so denkt sie auch heute noch .«
Jetzt
standen ihr die Tränen in den Augen. Und eine weitere Erkenntnis brannte sich
in ihr Gedächtnis. Sie war auf dem besten Wege, genauso zu werden. So wie ihre
Mutter. Das war ihr bislang nicht aufgefallen. Zu sehr war sie mit sich selbst
beschäftigt gewesen. Hatte niemals das Bedürfnis verspürt, über solche Dinge
nachzudenken. Erst in einer trostlosen Zelle sitzend, wurde ihr das bewusst. In
Gegenwart eines Mannes, der sie vor sich her trieb. Michael blickte zu Boden.
Hatte er auch das so geplant? Clara atmete durch und sprach weiter. Jetzt war
sie es, die ihn fixierte.
»Mit den
Jahren interessierte ich mich immer weniger für meine Ausbildung. Auch meine
Haustiere wurden mir langweilig. Sie waren mit der Zeit einfach nicht mehr da.
Weiß der Himmel, wo sie geblieben sind. Mit der Pubertät begann ich, mich dann
für Jungen zu begeistern. So wie jedes Mädchen. Und für Mode. Für Stars und wie
sie sich gaben. Sich kleideten. Sich benahmen. Jeder möchte doch einmal berühmt
sein. Und ich hatte das Glück, einen reichen Vater zu haben. Also war ich schon
von Beginn an im Vorteil. Das streite ich nicht ab .« Clara versuchte absichtlich, nicht ihr Aussehen mit ins Spiel zu bringen.
Schließlich hatte er ihr schon einmal Oberflächlichkeit vorgeworfen. »Aber ich
schweife ab«, fuhr sie fort. »In der Schule ging es bergab, und ich bestand nur
mit Mühe die jeweiligen Jahrgänge. Es war mir damals einfach wichtiger, beliebt
und angesehen zu sein. Ich hatte schon immer gerne viele Menschen um mich. Und schöne
Feste. Sie verstehen das nicht. Aber es ist schön, glücklich zu sein. Natürlich
weiß ich um die Schattenseiten der Welt Bescheid. Auch ich sehe fern. Aber ich
kann es nun einmal nicht ändern. Auch wenn Sie mich deshalb verurteilen. Es
ist, wie es ist .« Clara wartete auf eine Reaktion. Und
die kam auch. Wenngleich völlig anders als angenommen.
»Erzählen
Sie von dem jungen Mann. Wie hieß er noch gleich. Liebmann? Korherr ?«
Clara sah ihn verwirrt an. Wen meinte er bloß? Dann dämmerte es ihr allmählich.
»Liebherr ?« , fragte sie vorsichtig. »Thomas Liebherr?« Er nickte.
»Woher kennen Sie ihn ?« Michael zuckte mit den
Schultern. Natürlich. Die Paparazzi . Thomas war sehr
pressescheu gewesen. Aber natürlich hatten die nicht lockergelassen. »Ich
verstehe nicht ganz. Thomas ist ein guter Freund. Sicher. Aber …« Michael
unterbrach sie.
»Guter
Freund !« , rief er. »So ein Quatsch. Ich bin nicht
Barbara Berghoff, so eine dämliche Reportertussi. Mir brauchen Sie nichts
vorzulügen. Ich habe
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