Clara
lang nicht. Es ist traurig, aber auch
zutiefst dem Menschen eigen. Denn wir wollen das Schlechte, das Böse nur allzu
leicht verdrängen. Bis es uns ganz unvermittelt wieder einholt. Und alles von
Neuem ausbricht.« Clara machte den Fernseher aus.
»Nun, bei
Ihnen scheint das anders zu liegen. Sie vergessen nicht. Und doch hat sich das
Böse manifestiert .« Er sah sie lange an. Die Pistole,
die in ihrer Hand ruhte, wirkte wie Magie auf ihn. Clara sah einen kleinen
metallischen Gegenstand aus der Tasche seiner Polyesterjacke hervorlugen. Nur
ganz kurz.
»Oh ja«,
antwortete er. »Das Böse ist wahrlich allgegenwärtig .« Er zog eine Zeitung aus dem Jackeninneren und reichte sie ihr durch die Stäbe.
Langsam stand sie auf und nahm sie mit zittrigen Fingern entgegen. Ein Schauer
fuhr über ihren Rücken. Sie hatte diese Situation schon einmal erlebt. Sie nahm
am Tisch Platz. » Spektakulärer Selbstmord « prangte in großen Lettern von
der Titelseite. Darunter einige Zeilen. Dann ein großes Foto vom Bergmann’schen
Bürogebäude. Ein Kreis war auf den Asphalt gezeichnet. Ein dicker Pfeil, der
die Fassade hinunter zeigte. Sie las den Namen ihrer Mutter. Zu mehr reichte es
nicht mehr. Wie versteinert saß sie da. Der Ohnmacht ganz nahe. Es wurde
schwarz vor ihren Augen. Krampfhaft umklammerte sie die Pistole. Blickte in
einen Tunnel, der keinen Anfang und kein Ende kannte. Michael sprach sie an.
Seine Stimme klang wie ein Echo.
»Es tut uns
aufrichtig leid, Clara. Über die Ursachen dieser Tat ist leider noch nichts
bekannt. Es wurden keine Videos gefunden. Oder irgendwelche Ohren. Die Polizei
tappt einmal mehr im Dunkeln. Vermutlich nehmen Sie an, dass Ihre Mutter aus
Gram über Ihr Verschwinden das getan hat. Wäre ja auch verständlich .« Clara war wie benommen. Mutter hatte Selbstmord begangen.
Aber warum? Sie hatte sie doch gar nicht geliebt. Oder doch? Und wenn auch. Das
ergab doch keinen Sinn. Sie tauchte wieder aus dem Tunnel auf. Tränen flossen
über ihr ganzes Gesicht. Was hatte er da gesagt? Es tut uns leid. Uns? Keine
Videos? Ohren? Was war das für ein Quatsch? Ihre Hände zitterten. Ja, sie
schlugen förmlich aus. Clara schluckte. Immer und immer wieder. Hysterie
bemächtigte sich ihrer. Doch sie brach nicht zusammen. Papa war tot. Mama war
tot. Und warum? Sie begann zu schreien. Wie eine Urgewalt stürmte sie zum
Gitter. Richtete die Waffe direkt auf Michael. Wieder dieses metallische
Glitzern. Seine Hände wirkten verkrampft. So, als hielten sie irgendetwas fest.
Doch darum scherte sie sich jetzt nicht.
»Wie hast du
das gemacht? Wie hast du sie dazu gebracht ?« Sie bebte
vor Trauer, Angst, Zorn und Erregung. »Was soll dieses Gerede von Ohren und
Videos? Und wer ist hier noch beteiligt ?« Michael wirkte
ängstlich auf sie. Sie hatte ihn so weit, und sie würde dieses Schwein umpusten, wenn er nicht gleich antwortete.
»Das müssen
Sie selbst rausfinden , Clara .« Sein ganzer Körper war zum Zerreißen gespannt. Er schien sich vor dem zu
fürchten, was ihm bevorstand. Vor diesem dunklen, schwarzen Pistolenlauf, der
direkt auf ihn gerichtet war. »Sie hatten es von Beginn an in der Hand .« Clara lachte laut auf. Sie hatte genug davon.
»Ja, und ich
werde es jetzt zu Ende bringen .« Der Gegenstand ragte
ganz deutlich aus der Tasche. Es war der Bart eines Schlüssels. Clara verzerrte
ihr Gesicht zu einer hasserfüllten Fratze.
»Fahr zur
Hölle !« , schrie sie. Dann drückte sie ab. Der Lärm war
ohrenbetäubend. Sie stand so fest, so stark und unbeugsam da, dass sie den
Rückstoß der Waffe nicht registrierte. Michael schien mitten ins Herz
getroffen. Mit weit aufgerissenem Mund starrte er sie an, während seine rechte
Hand schon auf der tödlichen Verwundung lag. Rotes Blut triefte durch seine
Kleider, quoll über seine Finger. Er wankte. Zuerst ein kurzer Schritt nach
vorn. Dann zwei zurück. Im nächsten Moment fiel er. Knallte gegen die Wand, die
er langsam mit dem Oberkörper hinabrutschte. Seine Augen immer noch auf Clara
gerichtet, die ihn ungläubig, fast verwirrt anstarrte. Der Tod ihrer Mutter
schüttelte sie ein letztes Mal durch. Dann wurde sie hart. Kalt wie ein
Eisblock. Michael Gruber sackte vollends zusammen und kippte zur Seite. Sein
Gesicht zum Steinboden gewandt.
3
Clara zog
Michaels Körper zu den Gitterstäben. Sie achtete darauf, dass sein Gesicht ihr
abgewandt blieb. Niemals wieder wollte sie in sein Antlitz blicken. Seinen
bohrenden Augen ausgesetzt
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