Clara
sein. Er hatte, was er wollte. Er war tot. Aber er
würde nicht in Frieden ruhen. Das nahm sie sich fest vor, als sie seine rechte
Jackentasche filzte. Dort, wo der Schlüsselbart hervorgelugt hatte. Schon hielt
sie ihn in den Händen. Ruhig, beinahe entspannt atmete sie durch. Sie wollte
diesen Augenblick festhalten. Unauslöschlich in ihrem Gehirn speichern. Diesen
Moment, den sie die letzten sechs Monate so sehr herbeigesehnt hatte. Clara war
jetzt beinahe euphorisch. Vergaß alles. Nun war alles vorbei. Sie würde da
rausgehen und alles hinter sich lassen. Ihr Leben neu ordnen. Vielleicht neu
überdenken. Denn es gab viel aufzuarbeiten. Viel Trauer zu überwinden. Sie
steckte den Schlüssel ins Schloss. So oft hatte sie dieses Geräusch gehört. So
oft hatte sie sich danach gesehnt, es selbst zu verursachen. Und nun war es so
weit. Der Bart glitt in die Öffnung und rastete ein. Dann drehte sie den
ringförmigen Griff gegen den Uhrzeigersinn. Doch es passierte nichts. Der
Schlüssel verharrte in seiner Stellung. Genauso, wie es auch der
Schließmechanismus tat. Clara wurde nervös. Kleine Schweißperlen bildeten sich
auf ihrer Stirn. Warum sperrte das verdammte Ding nicht auf? Er sah doch
genauso aus, wie der, den Michael immer benutzte. Schließlich hatte sie ihn ja
schon selbst in den Händen gehalten. Bei ihrem ersten missglückten
Fluchtversuch. Sie ruckelte weiter herum. Probierte es in die andere Richtung.
Nichts. Der Schlüssel rührte sich nicht einen Millimeter. Er passte nicht. Ihr
Hochgefühl war wie weggefegt. Sie begann, an der Klinke zu zerren. An den
Gitterstäben. Trat mit ihren spitzen Schuhen dagegen. So lange, bis der Schmerz
zu groß wurde und sie verzweifelt auf den nahen Stuhl sank. Ihr Herz schlug
wild. Pochte bis mitten in ihr Gehirn hinein. Sie blickte auf Michael. Dieser
elende Schweinehund. Sie erhob sich und stürzte auf seinen reglosen Körper zu.
Plötzlich hielt sie inne. Vielleicht hatte er ja mehrere solche Schlüssel
dabei. Sie begann, durch seine Taschen zu gehen. Beide Vorder- und beide
Gesäßtaschen an der Hose waren leer. Sie zerrte an ihm herum. Dann kam die
linke Jackentasche dran. Sie ertastete etwas. Sie zog es heraus. Ein Kuvert.
Wütend, aber auch hoffend riss sie es auf. Und begann zu lesen.
» Liebe
Clara!
Ich hoffe,
Sie sind nicht allzu sehr enttäuscht. Aber das wäre auch zu einfach gewesen,
oder nicht? Nein, Sie haben mir nie richtig zugehört. Versuchen Sie, sich zu
erinnern. Versuchen Sie, Ihren Schmerz zu vergessen. Es gibt immer eine Lösung.
Denken Sie an die Pistole. Oder denken Sie an das, was direkt vor Ihren Augen
ist. Versuchen Sie, nicht alles auf mich zu projizieren. All Ihren Hass, all
Ihr Unglück, was Ihnen zweifellos widerfahren ist. Ich bedaure das letztlich
sehr. Doch es war zu spät. Ich war zu weit gegangen. Sah keine Möglichkeit mehr
als dieses Ende. Sie sind ein weitaus besserer Mensch, als ich gedacht hatte.
Jedenfalls ein besserer als ich. Wenn es Ihnen ein Trost ist. Aber das ist es
natürlich nicht. Warum haben Sie nicht ein Mal auf mich gehört? Dann wäre Ihnen
zumindest Burger erspart geblieben. Obwohl ich zugeben muss, dass es mir nicht ungelegen kam. Wie Sie sich auch entscheiden. Quälen Sie
sich nicht dabei. Denn das Überleben ist schon schlimm genug. Michael. «
Clara zog es
die Kehle zu. Sie verspürte plötzlich großen Durst. Sie stand auf und ging zur
Wanne. Sie war leer. Genauso, wie es auch die Flaschen waren. Sie ging zum
Vorratsschrank. »Überleben« hatte er darauf geschrieben. Es wirkte wie ein
letzter Hohn. Auch der war leer. Aber all das wusste sie ohnehin. Sie wollte
nur die trostlose Gewissheit. Worauf sollte sie noch warten? Er hatte gewiss
alles bis ins letzte Detail arrangiert. Also gab es garantiert keine Rettung in
letzter Sekunde für sie. Nur die Erwartung eines elenden Todes. Jerry krabbelte
an ihrem linken Bein hoch.
»Ja, hier
endet unser Weg, kleiner Jerry. Es tut mir leid, dir etwas versprochen zu
haben, was ich nicht halten konnte .«
Die Ratten
blieben also doch übrig. Eine ganze Weile lang. Denn er würde auf Nahrung
zurückgreifen können. Auf Michael und auf sie selbst. Für Clara kam das nicht
infrage. Es wäre auch sinnlos gewesen. Da der Durst der weitaus mächtigere
Gegner war. Und wie lange konnte sie schon ihren eigenen Urin trinken? Nein, es
würde doch nur das Unausweichliche etwas hinauszögern. Und sie wollte das in
Würde hinter sich bringen.
Clara setzte
sich, nahm einen
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