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Clara

Clara

Titel: Clara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Koller
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Kugelschreiber zur Hand und drehte Michaels Abschiedsbrief um.
Sie hatte ihn nicht verstanden. Und sie wusste mittlerweile, dass es da auch
nichts zu verstehen gab. All seine Phrasen, all seine Andeutungen waren nur
Schachteln, die wiederum eine andere in sich bargen. Er hatte sein Ziel
erreicht. Er hatte ihre Familie ausgelöscht. Sie setzte die Mine des Schreibers
aufs Papier. Doch nichts passierte. An wen sollte sie überhaupt schreiben? Und
was? War nicht alles bedeutungslos geworden? Die Presse würde es, wenn es
überhaupt jemals gefunden wurde, abdrucken und somit ein letztes Mal Geld mit
ihr verdienen. Die Presse, die Medien, die sich bereits anderen Themen
zugewandt hatten. Die einen Dreck für sie übrig hatten. Nein, es gab nichts,
was es der Nachwelt zu hinterlassen gab. Sie war bereit. Und es gab keinen
Ausweg. So oft schon hatte sie das ganze Inventar auseinandergenommen .
In der Hoffnung, irgendetwas zu entdecken, was sie hier rausbrachte .
Hatte an den unmöglichsten Stellen gesucht. Ohne jedes Ergebnis. Selbst am
Fernseher hatte sie herumgeschraubt. Sie hatte niemals eine Chance gehabt.
Wenngleich er ihr das ständig vorgaukelte.
    Jetzt war er
tot. Wie er es gewollt hatte. Im Glauben, mit seiner Sarah wieder vereint zu
sein. Doch da unterlag er einem Trugschluss. Denn es würde ihn gar nichts
erwarten. Nur endlose Leere. Sie würde es gleich wissen. Mit ruhiger Hand nahm
sie die Waffe auf und führt sie zur Schläfe. Wie hatte er in seiner letzten
Nachricht geschlossen? Das Überleben ist schon schlimm genug? Ja,
wahrscheinlich war es das. Sie schloss die Augen.
    »Bye, bye,
Jerry!«

 
    4

 
    Mit einem
Mal hielt sie inne. Überleben? Sie senkte die Pistole und ging zum
Vorratsschrank. Überleben. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Wie
unsäglich dumm war sie doch gewesen. Die ganze Zeit über. Ja, es lag tatsächlich
vor ihren Augen. So sehr, um es nicht in Erwägung zu ziehen. Sie zog den
Schlüssel ab. Steckte ihn ins Schloss der Gittertür. Dieses Mal würde es
funktionieren. Und das tat es auch. Der Eisenriegel schnellte zurück. Sie
drückte die Klinke runter, und die Tür ging auf. Ein kolossaler Felsbrocken
fiel von ihr ab.
    Sie rief
Jerry zu sich her und steckte die Waffe ein. Man konnte nie wissen. Schon
einmal war sie so nahe an der Freiheit gewesen. Ohne ihn nochmals anzusehen,
stieg sie über Michael hinweg, öffnete die Stahltür und kletterte die Leiter
die Schleuse hoch. Die Bodenklappe machte ihr wieder zu schaffen. Wenn nur
dieser verdammte Durst nicht gewesen wäre. Ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen
fest. Sie ging sehr behutsam zu Werke, da sie Jerry, der in der Tasche ihrer
Bluse saß, nicht verletzen wollte. Endlich hatte sie den toten Punkt
überwunden, und die Klappe fiel in den Raum. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
Sie war am Leben. Erst jetzt realisierte sie es. Es war schön, am Leben zu
sein. Unendlich herrlich. Unersetzbar.
    Sie hievte
sich mit aufgestützten Unterarmen aus der Luke und kam wieder auf die Beine.
Sie rutschte ihren kurzen Rock zurecht und stöckelte
in Richtung Hüttentür. Auf halbem Weg kam sie an einem Tisch vorbei. Der hatte
letztes Mal nicht hier gestanden. Soweit sie sich noch daran erinnern konnte.
Eine Literflasche Mineralwasser befand sich nebst einigen anderen Utensilien
darauf. Ihr Durst meldete sich sofort zurück. Sie nahm die grüne Flasche und
drehte den Plastikschraubverschluss auf. Er war noch im Originalzustand. Das
Geräusch prickelnder Kohlensäure durchdrang ihre Ohren. Sie setzte den
Flaschenhals an und machte einen tiefen Schluck. Es tat unendlich gut. Sie
stellte die Flasche ab und steckte den Verschluss drauf.
    Zu mehr reichte
es nicht mehr. Das Schwindelgefühl kam urplötzlich. Ohne jede Vorwarnung. Und
genauso schnell, wie es kam, führte es zur Ohnmacht und schließlich zu einem
tiefen, traumlosen Schlaf. Der trat ein, noch bevor sie den Boden berührte. Das
winzige Loch im Verschluss, das die Nadel einer Spritze hinterlassen hatte, war
für ein Menschenauge nicht erkennbar.

Kapitel 17 –
Freiheit

 
    1

 
    Das
Gezwitscher von Vögeln war das Erste, was Clara bei ihrem Erwachen vernahm. Sie
hatte einen gehörigen Brummschädel. So als tanzten tausend kleine Teufel in
ihrem Kopf. Sie öffnete die Augen und blickte in zahllose Baumkronen.
Ringsherum lagen Laub und Äste. Schwerfällig erhob sie sich. Sie fühlte sich,
als wäre sie über Stunden in einem Schraubstock eingespannt gewesen. Wie war
sie

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