Clara
Die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Johann, der
Hausmeister, trat respektvoll ein. Clara schloss die Augen und atmete tief
durch.
»Verzeihen
Sie, gnädiges Fräulein, aber wir sind durch einen furchtbaren Knall geweckt
worden. Ich wollte nur nachsehen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist .« Der gute Johann. Eine Seele von Mensch. Die Tragödien in
der Familie hatten ihn schwer mitgenommen.
»Danke für
Ihre Aufmerksamkeit. Ich bin auch wach geworden. Es kam wohl von irgendwo aus
der Nachbarschaft. Vielleicht eine Fehlzündung. Oder ein Knallkörper. Hier ist
jedenfalls nichts passiert. Gehen Sie ruhig wieder ins Bett, Johann .« Johann! Sie sprach ihn wie einen Lehrjungen mit Vornamen
an. Obwohl er mindestens doppelt so alt war wie sie. Er deutete eine Verbeugung
an, wünschte eine gute Nacht und entfernte sich wieder. Clara überlegte. Da war
ein Mensch, der sich um sie sorgte. Ihr diente. Wenn auch nur des Geldes wegen.
Und sie kannte nicht seinen vollen Namen. Johann, Maria. Sie spürte, wie ihre
Magenwände sich zusammenzogen. Aber sie hatte keine Zeit, jetzt darüber zu
sinnieren. Das würde warten müssen. Sie blickte auf den Tisch. Der USB-Stick lag noch da. Die DVD. Thomas’ Wohnungsschlüssel.
Wieso hatte Michael das alles dagelassen? Man hätte es doch bei ihrer Leiche
gefunden. Und damit auch seine Mittäterschaft beweisen können. War ihm das
egal? Oder vertraute er darauf, dass sie diese Dinge selbst entfernte? Bevor
sie sich auslöschte.
Sie holte
ihren Laptop und steckte den Datenträger an. Ein Fenster mit fünf Ordnern wurde
geöffnet. Sie machte den ersten auf. »Bergmann, Clara«. Er enthielt den
fingierten Brief an sie. Sie überflog ihn und öffnete dann den zweiten Ordner.
»Bergmann, Elisabeth«. Die Erpresserbriefe. Clara las sie mit völliger
Fassungslosigkeit. Welch grausamer Geist lag dem zugrunde? Der dritte Ordner
war leer. »Burger, Franz«. Der vierte enthielt Michaels Darstellung der
Ereignisse. Sein perfides Spinnennetz. Es war logisch aufgebaut. Hatte kaum
Schwachstellen. Solide und glaubwürdig. Unendlich böse. Wer immer diese Daten
in die Hände bekam, würde sie verurteilen. Ihr kein Wort der Berichtigung
glauben. Im fünften Ordner befand sich ein Lageplan des Verlieses. Es war, wie
er gesagt hatte. Ein leicht abgelegenes Grundstück im Norden des Waldviertels.
Nahe eines kleinen Dorfes namens Alt-Mürren . Unweit
der tschechischen Grenze.
Hätte sie
nur die Wahrheit gesagt! Sich nicht auf dieses Lügengewirr eingelassen. Dann
säße er längst hinter Schloss und Riegel. So aber war sie es, die dieses
Schicksal zu erwarten hatte. Und Thomas womöglich ein noch viel härteres. Auch
dafür würde man sie belangen. Clara nahm den Schlüsselbund in die Hand und
drückte ihn fest an sich. Irgendetwas passte nicht. Der Ordner über Burgers
Grabstelle war leer. Der Ort sollte ihr verborgen bleiben. Aber warum? Um die
verräterischen Beweise nicht zu entfernen?
Mit einem
Mal ging ihr ein Licht auf. Der leere Ordner, die Datenträger, die Schlüssel,
das Foto. Michael hatte ihr eine Hintertür offen gelassen. Eine Alternative zum
Selbstmord. Eine letzte Chance. Thomas! Blitzartig fuhr sein Name ihr durch den
Kopf. Sie musste Thomas finden. Zumindest seine Hände von der Schuld
reinwaschen. Daran hätte sie schon viel früher denken müssen. Clara eilte ins
Schlafzimmer. Streifte das Nachthemd ab. Schlüpfte in Jeans, einen leichten
Pulli, Tennisschuhe. Jerry beobachtete sie vom Bett aus.
»Ich bin
eine Weile weg. Aber ich werde eine Nachricht hinterlassen, dass man sich um
dich kümmert .« Sie tätschelte ihn leicht am Kopf,
schnappte sich den Laptop samt den anderen Utensilien und lief die Treppen
runter zum Wagen. Sie fragte sich noch immer, wie Michael es geschafft hatte,
hier unbehelligt hereinzukommen. Clara riss die Wagentür auf und warf die
Sachen auf den Beifahrersitz. Die DVD kullerte auf die Fußmatte. Die DVD. Die
würde sie nicht ansehen. Sie wusste auch so, was drauf war. Die Scheinwerfer
gingen an, der Motor sprang an. Sie wusste nicht, was sie diese Nacht erwarten
würde. Eines war allerdings klar. Sie konnte Thomas nur entdecken, wenn sie
Michaels Hinweise erkannte. So schemenhaft, so verwirrend diese auch immer sein
mochten. Sie musste ihn finden.
4
Clara ging
am Aufzug vorbei und nahm die Hintertreppe, die von der Tiefgarage in die
oberen Etagen führte. Sie bewegte sich vorsichtig weiter. Immer auf der Hut.
Immer in der Angst, Michael könnte
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