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Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

Titel: Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Amy Schlitz
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verlagerte ihren Bücherstapel auf den anderen Arm und zupfte das Tigerfell um ihre Schultern zurecht. In den wenigen Stunden hatte sie es schon lieb gewonnen. Es machte ihr frischen Mut, wenn sie an sich hinunterschaute und das gelb-schwarz gestreifte Fell sah, das ihre Arme bedeckte. Tiger waren furchtlose Tiere, ermahnte sie sich.
    Sie öffnete die Flügeltür und trat ein.
    Ihre neue Garderobe entging Cassandra Sagredo nicht. Sie brach in bellendes Gelächter aus. Ruby, die Lizzie Rose gefolgt war, antwortete mit einem Kläffen und sprang auf das Bett.
    »Eigenwillig!«, stellte Cassandra fest. Sie klopfte auf die Bettdecke, um den Hund aufzufordern, sich neben sie zu setzen. Ruby machte einen Satz über die Deckenhügel und leckte der alten Frau die Finger.
    »Guten Abend, gnädige Frau«, sagte Lizzie Rose demonstrativ.
    Cassandra kraulte die Ohren des Hundes. »Ich nehme an, du hältst ›eigenwillig‹ für einen ziemlich erbärmlichen Auftakt zu einem Gespräch.«
    »Das habe ich nicht gesagt, gnädige Frau.«
    »Nein, hast du nicht, du wohlerzogenes Kind. Du wohlerzogenes Kind im Tigerfell. Du magst Pelze, nicht wahr?«
    »Nein, gnädige Frau. Ich glaube nicht.«
    »Und warum nicht?«
    Lizzie Rose überlegte einen Augenblick. Die alte Frau klang beinahe freundlich und ihr fiel auf, dass für eine Unterhaltung mit Cassandra Sagredo das Gleiche wie für Gespräche mit Parsefall zu gelten schien: Gute Manieren waren zu vernachlässigen. »Ich glaube, es muss schön sein, ein Tiger zu sein. Ich weiß nicht viel über Indien, aber ich denke, es ist warm dort und es blüht Jasmin … In einem sonnigen Land ein wildes Tigerleben zu leben und dann zu sterben, weil jemand dein Fell will … das finde ich traurig. Wenn ich ein Gentleman wäre, würde ich nicht auf Tiger schießen.«
    »Und warum hast du dann das Fell genommen? Gefällt es dir etwa nicht? Wolltest du es etwa nicht besitzen?«
    »Ich habe es mir nicht genommen«, entgegnete Lizzie Rose, »nicht, um es zu behalten. Ich habe es mir nur geliehen, weil das Haus so kalt ist …« Sie brach ab. In Madamas Schlafzimmer war es überhaupt nicht kalt. Im restlichen Haus konnte es noch so zugig sein, im Zimmer der Kranken war es immer stickig und ein stechender Geruch hing in der Luft.
    »Dein Kleid ist nicht sonderlich warm, oder?«
    »Nein, gnädige Frau.«
    »Und übrigens auch nicht sonderlich hübsch. Ich dachte, Fettle hätte es verbrannt.«
    Lizzie Rose reckte ihr Kinn vor. »Ich denke nicht, dass Mrs Fettle ein Recht hatte, mir meine Kleidung wegzunehmen. Ich habe sechseinhalb Pence für dieses Kleid bezahlt.«
    »Ein Vermögen.«
    Lizzie Rose biss sich auf die Zunge. Sie war versucht, dieser verwöhnten alten Frau zu erklären, dass sechseinhalb Pence in der Tat ein Vermögen waren. Man erhielt sechs Penny-Wecken dafür, sechs magere Abendessen für Parsefall und sie. Als Lizzie Rose daran zurückdachte, wie karg manche ihrer Mahlzeiten ausgefallen waren, verspürte sie den Drang, Mrs Sagredo noch mehr zu sagen, der alten Frau ins Gesicht zu schleudern, mit welchen Problemen sie zu kämpfen hatte. Sie wollte jemandem sagen, wie groß ihre Angst vor Hunger und Armut war, davor, auf der Straße zu enden. Stattdessen verteidigte sie sich: »Sie sagten, ich dürfe mich überall im Haus umsehen und mir alles nehmen, was mir gefällt. Ich habe meine Kleider unten im Lumpensack gefunden. Und da ich nichts zum Anziehen hatte, habe ich sie mir zurückgeholt.«
    »Der Schrank im Weißen Zimmer ist voll mit Kleidern«, wandte Cassandra ein. »Mit wunderschönen Sachen. Hast du sie dir nicht einmal angesehen? Wolltest du sie nicht haben? «
    Lizzie Rose wurde rot. Sie hatte sich tatsächlich die Kleider angesehen. Und es gab da eines – aus cremefarbener Seide mit Schmetterlingen und wilden Stiefmütterchen bestickt –, bei dem sie nicht hatte widerstehen können, es anzuprobieren. Das Kleid war seit dreißig Jahren aus der Mode und viel zu groß für sie, trotzdem hatte sie wie gebannt vor dem Spiegel gestanden, verblüfft, dass etwas sie so hübsch aussehen ließ. Wenn sie gewusst hätte, wie man das Kleid auf ihre Größe abänderte, hätte sie es nicht über sich gebracht, es zurückzuhängen. Da die Seide jedoch von so erlesener Güte war, fürchtete sie, sie würde das Kleid womöglich ruinieren, und deshalb hätte sie das Hauspersonal um Hilfe bitten müssen. Aber schon bei dem Gedanken an Mrs Fettles missbilligende Reaktion war die Angelegenheit

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