Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Tintenfass. Das is’ angelaufen, aber ich glaub, es is’ Silber. Und ’nen Fächer.« Er öffnete den Fächer. »Die Stäbe da sind aus Perlmutt und Blattgold. Dann hab ich in allen Schlafzimmern in den Schubladen nachgesehen und Tücher gefunden.« Er hielt eine Handvoll Taschentücher hoch. »Das is’ Seide und ’n paar haben Spitze ringsrum. Die kann ich die Straße runter beim Pfandleiher verkaufen, wenn ich wieder in London bin.« Er ließ einen Rosenkranz von seinen Fingern baumeln und betrachtete ihn anerkennend. »Ach ja, Jesus, den hab ich auch noch mitgenommen.«
Cassandra war beeindruckt. Der Junge hatte einen guten Instinkt, was Wertgegenstände anging. Er hatte beim Plündern des Hauses ganze Arbeit geleistet.
»Gnädige Frau?« Parsefall beobachtete sie argwöhnisch. »Haben se das ernst gemeint, das wo se vorher gesagt haben? Kann ich das behalten? Sie rufen nich’ die Bullen?«
Cassandra sah ihre Gelegenheit gekommen. »Meinst du mit Bullen die Polizei?«
Parsefall nickte.
»Ich hasse die Bullen«, erklärte Cassandra schnell. »Sie sind vulgär und lästig und ich will sie nicht im Haus haben.« Sie beobachtete, wie sich seine finstere Miene aufhellte, und beschloss, die Lüge weiterzuspinnen. »Letztes Jahr hat jemand bei uns eingebrochen und das Silber gestohlen. Mrs Fettle wollte die Bullen rufen, aber ich habe es ihr untersagt.«
Parsefall machte ein zweifelndes Gesicht, worauf Cassandra lieber das Thema wechselte. »Und im Übrigen, warum sollte ich die Polizei rufen, wenn du doch gar nichts gestohlen hast? Ich habe gesagt, ihr dürft euch im Haus alles nehmen, was ihr wollt. Bis auf eine Sache natürlich. Hast du mir alles gezeigt, was du dir ausgesucht hast?«
Parsefall trat von einem Bein aufs andere und hob einen Fuß, um sich damit an der Wade des anderen Beins zu kratzen. Er riss die Augen weit auf und in seinem Blick lag eine heuchlerische Unschuld.
Cassandra seufzte. Matt legte sie ihre Hand um das goldene Medaillon. Bei der Anstrengung, in seine Gedanken einzudringen, fühlte sie sich der Ohnmacht nahe. »Vor weniger als fünf Minuten, als du zum Tisch bist, um die Pistole zu holen, hast du meine Smaragdkette mitgehen lassen – die Kette, die deine Schwester nicht wollte. Sie ist jetzt in deiner Hosentasche«, sagte sie ohne Umschweife. »Und heute Morgen hast du zwei Ringe aus der florentinischen Truhe genommen. Der eine ist mit einem Rubin besetzt, der andere mit einem gelben Diamanten. Der Diamant ist übrigens echt – lass dich vom Pfandleiher nicht übers Ohr hauen und dir erzählen, das sei nur ein Topas. Du hast die Ringe in ein Taschentuch gewickelt und im Innenfutter deiner Jacke verborgen.«
Parsefall schaute sie entgeistert an. Er zog den Kopf ein und rieb sich den Nacken.
»Du darfst die Ringe behalten. Du darfst alles behalten.«
»Warum wollen se die Sachen nich’?«
»Das habe ich euch bereits gesagt«, erwiderte Cassandra gereizt. »Ich sterbe bald. Ich brauche sie nicht mehr. Bist du gar nicht neugierig, warum ich weiß, wo du meinen Schmuck versteckt hast?«
»Haben die Dienstboten mich ausspioniert?«
»Nein. Ich bin dir mithilfe meines Steins auf die Schliche gekommen. Ich habe dir doch erzählt, dass er magische Kräfte hat«, entgegnete Cassandra. »Willst du ihn noch einmal sehen? Ich lass dich den Opal noch einmal anschauen.«
»Wozu?«, wollte Parsefall wissen. »Warum wollen se mir den Stein zeigen, wo ich ihn doch eh nich’ haben kann?«
Das war eine kluge Frage, auf die Cassandra keine Antwort parat hatte. Sie schwieg kurz, um nachzudenken. »Ich will dir einen Trick zeigen.« Sie deutete mit einer Kinnbewegung auf ein kugelförmiges Glasgefäß auf dem Kaminsims. »Bring mir das her.«
Der Junge holte die Glaskugel und legte sie ihr in den Schoß. Darin saßen auf einem Korallenzweig zwei ausgestopfte Kolibris. Ihre Körper waren kaum größer als der einer Hummel. Cassandra umschloss den Feueropal mit den Fingern. »Schau genau hin!«
Langsam wurde sie von der Hitze des Phönixsteins erfasst, was eine Woge der Übelkeit auslöste. Sekunden vergingen, ohne dass etwas passierte. Cassandra drückte fest den Stein. Einer der toten Vögel begann, sich zu regen. Er legte seinen winzigen Kopf schief und flatterte mit den Flügeln. Die schillernden Farben der Federn wurden sichtbar: Limonengrün und Ultramarinblau, glitzerndes Gold und Violett. Jetzt bewegte auch der zweite Vogel schwirrend seine Flügel und ruckte mit dem Kopf. Aus
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