Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
stand er auf. Mechanisch wusch er sich und zog sich an. Anschließend ging er die Treppe hinunter zum Frühstückszimmer. Letztes Jahr war die Treppe mit Stechpalmenzweigen und weißen Bändern geschmückt gewesen. Clara hatte sich rote Bänder gewünscht, aber Ada hatte auf Weiß bestanden, weil das für ein Trauerhaus angemessener sei. Dr. Wintermute wünschte, er hätte damals für Clara Partei ergriffen. Er überlegte, was Clara im Vorjahr zum Fest geschenkt bekommen hatte. Eine Puppe? Oder war das schon vor zwei Jahren gewesen? Er konnte sich nicht mehr genau erinnern. Ada würde es noch wissen, aber er würde sich hüten, sie danach zu fragen.
Vor der Tür zum Frühstückszimmer hielt er inne. Ob seine Frau am Tisch sitzen würde? Manchmal ließ sie sich ein Tablett nach oben bringen. Seit Claras Verschwinden aß sie nur sehr wenig. Als Mediziner hieß er das nicht gut. Als Vater empfand er ihre Magerkeit als angebracht – als eine Achtungsbezeugung für Clara. Er schämte sich für seinen eigenen Appetit, der sich mit skrupelloser Regelmäßigkeit meldete. Allerdings war er ein berufstätiger, hart arbeitender Mann und so bestand sein Magen auf Frühstück, Mittagessen, Nachmittagstee und Abendbrot. Selbst jetzt, in seiner trübseligen Feiertagsstimmung, zuckten seine Nasenflügel hungrig, als er den Duft von gebratenen Nierchen und Schinken roch. Er öffnete die Tür und trat ein.
Ada saß mit hängendem Kopf vor einem leeren Teller. Mit einer gewissen Erleichterung bemerkte Dr. Wintermute, dass sie immerhin Tee trank. Die Milch und der Zucker darin würden ihr wenigstens ein bisschen Nahrung zuführen. Er beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie und vermied es, Weihnachten zu erwähnen.
Mrs Wintermute drehte den Kopf weg. Seit Claras Verschwinden schien es ihr unangenehm zu sein, wenn er sie berührte. Er sagte sich, dass sie ihn nicht absichtlich zurückwies. Er durfte sich das nicht zu Herzen nehmen. Schweigend füllte er seinen Teller und setzte sich übereck zu seiner Frau an den Tisch.
Während er seine Serviette auseinanderfaltete, sagte Ada etwas. Ihre Stimme war so leise, dass er den Anfang verpasste und lediglich die Worte »Kensal Green« aufschnappte.
Dr. Wintermute räusperte sich und bemühte sich um einen neutralen Ton. »Liebes, ich werde dich heute Vormittag nicht auf den Friedhof begleiten.«
Ada setzte ihre Teetasse so abrupt ab, dass das Porzellan klirrte. »Aber wir fahren jedes Jahr am Weihnachtstag nach Kensal Green.«
»Ja. Aber heute nicht.« Ihm fiel auf, dass er schroff klang. »Verzeih mir, Liebes. Du darfst nicht vergessen, wann ich das letzte Mal auf dem Friedhof war.« Dr. Wintermute wandte sich von ihr ab und erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein eigenes Gesicht im Spiegel über dem Kamin. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte er sich nicht und nahm das Spiegelbild wie einen Patienten wahr: ein rüstiger Mann mittleren Alters, wohlhabend, gut genährt, leidet jedoch an Melancholie und nervöser Anspannung …
»Wir fahren jedes Jahr nach Kensal Green«, sagte Ada noch einmal.
»Ja, vielleicht war das ein Fehler.« Dr. Wintermute wusste, dass er sich auf gefährliches Terrain begab, doch er fuhr fort. »Manches Mal habe ich mir gedacht, dass es Clara unglücklich macht, an jedem Weihnachtsfest zum Friedhof zu fahren. Ich habe mich sogar gefragt, ob wir nicht um unsere toten Kinder auf Kosten der einen Tochter, die lebt, trauern …«
Der Kopf seiner Frau fuhr ruckartig hoch. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und sie rannen ihr über das Gesicht. Er griff nach ihrer Hand, aber sie wich ihm aus, indem sie sich schnell erhob.
»Ada, Liebes, verzeih mir! Ich meine es nicht –«
»Doch! Das tust du!« Sie schwankte und hielt sich an der Stuhllehne fest. »Du meinst, dass ich Clara unglücklich gemacht habe … dass ich sie gezwungen habe, zu trauern. Es ist wahr! Es ist wahr! An dem Tag, als sie verschwunden ist, war ich herzlos zu ihr. Es war ihr Geburtstag und dieses furchtbare Puppentheater … ich habe sie nicht lachen lassen … ich konnte ihr nicht verzeihen …« Mit einem Schluchzen rang Ada nach Luft. »Wenn sie weggelaufen ist, dann war das meine Schuld –«
»Das stimmt nicht!«, unterbrach er sie scharf. Er stand auf und wollte sie in die Arme schließen, aber sie zuckte zurück. »Ada, sie ist nicht weggelaufen, davon bin ich überzeugt. Sie wurde entführt … und dieser Scharlatan Grisini, dieses Ungeheuer, hat seine
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