Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Funkeln des Sonnenlichts auf dem Schnee blendete sie. Hie und da lugten dürre Grasbüschel, vertrocknet gelb wie Weizen zur Erntezeit, aus der Schneedecke hervor, und der Himmel war von einem klaren Blau mit einem Hauch von Lavendel. »Heute ist Weihnachten!«, sagte Lizzie Rose zu Ruby. »Sorgen wir dafür, dass es ein fröhlicher Tag wird, ja Ruby?«
Die Spanieldame tänzelte im Kreis herum, womit sie andeuten wollte, dass nicht nur Weihnachten war, sondern außerdem Zeit für den Spaziergang und das Frühstück – zwei ihrer absoluten Lieblingsbeschäftigungen.
Rasch kleidete Lizzie Rose sich an und eilte die Stiege hinunter in den Gesinderaum. Das Hauspersonal saß am Tisch bei Frühstücksspeck und Porridge. »Fröhliche Weihnachten!«, trällerte Lizzie Rose.
Doch niemand lächelte oder erwiderte den Gruß. Lizzie Rose spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie verschränkte die Hände vor dem Körper, reckte das Kinn hoch und wartete.
Schließlich bequemte Mrs Fettle sich zu einer Antwort. »Ich fürchte, niemand von uns ist heute Morgen sonderlich fröhlich gestimmt, Miss Fawr. Madama hat letzte Nacht einen Zusammenbruch erlitten und wir mussten nach dem Doktor schicken.«
»Oje! Das tut mir furchtbar leid!«, rief Lizzie Rose. »Ist sie sehr krank?«
»Es geht ihr schlecht«, erwiderte Mrs Fettle. »Das ist nicht der erste Anfall dieser Art, aber jedes Mal wird es schlimmer. Der Doktor sagt, dass sie an einem zehrenden Fieber leidet und ihr Herz schwach ist. Nichtsdestotrotz: Bislang ist sie jedes Mal durchgekommen und sie wird es auch diesmal wieder schaffen.« Mrs Fettle wandte sich an die anderen Dienstboten: »Der Arzt sagt, dass immer jemand bei ihr sein soll. Also setzt du dich den Vormittag über an ihr Bett, Esther. Und du löst sie heute Nachmittag ab, Janet.«
Esther und Janet machten verdrießliche Mienen. Lizzie Rose räusperte sich. » Ich könnte mich an ihr Bett setzen.«
»Das wird nicht nötig sein«, wehrte Mrs Fettle ab, als hätte das Angebot sie beleidigt. »Sie sind ein Gast, keine Hausangestellte. Da fällt mir ein: Madama hat mir befohlen, Ihnen auszurichten, dass Sie und Ihr Bruder Strachan’s Ghyll nicht verlassen sollen. Sobald es Madama besser geht, will sie den Advokaten kommen lassen und alles regeln, was mit ihrem letzten Willen zu tun hat.«
Lizzie Rose hörte ein leises Zischeln von Esthers oder Janets Seite. Sie konnte nicht genau sagen, von wem es kam, und presste ihre Hände fester zusammen. »Ich bin gern bereit, zu helfen, Mrs Fettle, wenn es irgendetwas gibt, womit ich mich nützlich machen kann.«
»Sie können mit dem Hund rausgehen, bevor ihm hier ein Missgeschick passiert«, erwiderte Janet dermaßen keck, dass Lizzie Rose ihr einen vernichtenden Blick zuwarf, um dann, so gemächlich wie sie es nur wagte, aus dem Haus zu schlendern.
Es war immer noch Weihnachten und die Sonne schien. Die Luft war frisch und duftete, und es hatte den Anschein, dass Madamas Angebot, den Kindern ihr Vermögen zu vermachen, doch ehrlich gemeint war. Lizzie Rose entsann sich all dieser guten Dinge und pflückte einen kleinen Zweig von einer Stechpalme als Schmuck für ihren Mantel. Es war Weihnachten, und zur Feier des Tages würde sie Ruby von der Leine lassen.
Der Hund sprang los und flitzte den Hang hinunter zum See. Im rosa Morgenlicht wirkte Lake Windermere wie verzaubert. Er ließ Lizzie Rose an die alten Geschichten von märchenhaften Unterwasserwelten und dem Schwert Excalibur denken, die ihr Vater ihr erzählt hatte. Dann ergriff eine andere, persönlichere und schmerzlichere Erinnerung von ihr Besitz: die an das Weihnachtsfest, das sie als Sechsjährige in Northumberland verbracht hatte.
Sie entsann sich, als wäre es gestern gewesen. Das Theater war wegen einer Cholera-Epidemie geschlossen, aber sie war noch zu klein, um zu verstehen, was das bedeutete. Sie freute sich über die Ferien. Ihre Eltern fuhren mit ihr zu dem Pfarrhaus, wo ihre Mutter aufgewachsen war. Unterhalb des Kirchhofs lag ein Teich und ihre Eltern brachten ihr dort das Schlittschuhlaufen bei. Lizzie Rose hatte das Bild ihrer Eltern vor einer nordenglischen Landschaft gestochen scharf vor Augen: ihren Vater mit den spitz auslaufenden Augenbrauen, wie er rückwärts auf Schlittschuhen über das Eis glitt, die rosigen Wangen und haselnussbraunen Augen ihrer Mutter.
Wie lange her das auf einmal erschien! Ihr kamen die Tränen und der klare Wintertag verschwamm vor ihren Augen. Sie
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