Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
schliefen. Cassandras Blick wanderte von einem zum anderen, während sie sich ihre Namen ins Gedächtnis rief. Der Junge, der vor dem Kamin schlief, hieß Parsefall. Das dunkelhaarige Mädchen im Sessel war Clara, und das Mädchen, das sich am Fußende ihres Betts zusammengerollt hatte, war Lizzie Rose. Der kastanienrote Spaniel gehörte ihr und nicht Marguerite.
Cassandra veränderte ihre Position, worauf der Hund sich rührte und gähnte. Lizzie Rose erwachte und stützte sich auf den Ellbogen. »Fühlen Sie sich besser, gnädige Frau?«
Cassandra studierte das besorgte Gesicht des Mädchens. »Ja.«
Lizzie Rose streckte den Arm aus und legte ihr prüfend die Hand auf die Stirn. »Wir schicken heute nach dem Doktor. Er wird dafür sorgen, dass es Ihnen besser geht.«
Cassandra griff nach Lizzie Roses Hand und suchte nach dem Abdruck ihrer Zähne. »Ich dachte, ich hätte dich gebissen.«
»Das war Clara.«
»Ich kann euch Strachan’s Ghyll vermachen, weißt du.«
Lizzie Rose schaute verlegen drein. »Das müssen Sie nicht, wenn Sie nicht wollen.«
Cassandra schaute sie stirnrunzelnd an. »Wenn dir jemand etwas anbietet, was du willst, dann solltest du es annehmen.« Sie schluckte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich möchte ein Glas Wein. Bringst du es mir?«
Lizzie Rose glitt vom Bett und tapste auf Zehenspitzen durch das Zimmer. Cassandra beobachtete sie und ihr wurde schwer ums Herz. Guter Gott, wie jung das Mädchen war: Dass sie sich so leichtfüßig bewegte, nachdem sie die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war! Cassandra griff nach dem Glas, das Lizzie Rose ihr reichte, und leerte es so gierig, dass ihr der Wein über das Kinn lief.
Lizzie Rose nahm das Glas wieder und füllte es am Waschtisch mit Wasser. Dann befeuchtete sie ein Taschentuch und wischte den klebrigen Fleck an Cassandras Kinn ab.
»Himmelherrgott, Kind!«, herrschte Cassandra sie ungeduldig an. »Habe ich dir je etwas Gutes getan, dass du mich so bedienst?«
Lizzie Rose legte die Stirn in Falten. Cassandra sah ihr an, dass sie vergeblich nach einer guten Tat suchte.
»Es gibt nichts«, sagte Cassandra gereizt. »Nun, immerhin hinterlasse ich dir das Haus – dir und dem Jungen –, das ist zumindest etwas wert. Zuvor will ich dir aber erzählen – ich muss es irgendjemandem erzählen –, was ich Marguerite gestohlen habe.«
Lizzie Rose setzte sich im Schneidersitz auf das Bett. »Den Stein, nicht wahr? Den Feueropal.«
»Ja«, sagte Cassandra. »Den Stein.«
»Das war vor mehr als siebzig Jahren. An Marguerites und meinem Geburtstag. Ich wurde dreizehn und sie zwölf. In Venedig war Karneval, und Marguerites Vater überredete die Nonnen, im Kloster eine Geburtstagsfeier für seine Tochter abhalten zu dürfen. Marguerite bekam die Erlaubnis, ihre sechs besten Freundinnen einzuladen. Wir alle waren ihre besten Freundinnen – Marguerite hatte einen Hang zu überschwänglichen Freundschaftsbekundungen –, aber ich war ihre aller- aller beste Freundin. Naiv wie sie war, mochte sie doch tatsächlich mich am liebsten.
Ich hatte auch Geburtstag. Bitte behalte das im Kopf. Marguerite schenkte mir einen Elfenbeinfächer, der mit Landvolk oder Nymphen oder irgend so einem verspielten Nonsens bemalt war. Das war das einzige Geschenk, das ich an dem Tag erhielt. Bevor meine Mutter davonlief, hatte ich immer Geburtstagsgeschenke bekommen. Aber meine Mutter wusste nicht einmal, wo ich jetzt lebte. Mir war klar, dass es sinnlos war, auf einen Brief von ihr zu hoffen. Und ich fürchtete, mein Vater würde mich ebenfalls vergessen, deshalb habe ich ihm geschrieben, um ihn an meinen Geburtstag zu erinnern. Tag für Tag habe ich gewartet. Sogar gebetet habe ich. Von ihm kam nichts: kein Brief, kein Geschenk.
Der 6. November rückte heran, der Tag von Marguerites Fest. Monsieur Tremblay traf ein und wir erwarteten ihn im Empfangszimmer der Nonnen. Es gab kleine Kuchen, Konfetti und Trinkschokolade. Wir setzten uns und schauten Marguerite beim Auspacken der Geschenke zu.
Sie war ganz aus dem Häuschen und juchzte vor Begeisterung in einer Art und Weise, die meine Zuneigung auf eine harte Probe stellte. Ihr Vater liebte sie abgöttisch. Er brachte ihr eine große, teure Puppe mit – sie spielte damals noch mit Puppen –, einen indischen Schal und einen Muff aus Leopardenfell, was sie ein bisschen betrübte, weil ihr, wie sie sagte, der arme Leopard leidtue! Ganz sicher fühlte sich kein Leopard je mitleidloser
Weitere Kostenlose Bücher