Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
er zwischen die Seiten geklemmt, um es an der richtigen Stelle wieder aufschlagen zu können. Es war halb neun Uhr abends und seine erste Pause an diesem Tag. Noch vor dem Morgengrauen war er zu einer Entbindung gerufen worden und gerade noch rechtzeitig nach Hause zurückgekehrt, um die Vorstellung der fantoccini zu sehen. Und so hatte er miterlebt, wie unmöglich sich seine Tochter gegen Ende der Darbietung benommen hatte, was bei seiner Frau einen Zustand nahe der Hysterie ausgelöst hatte. Doch bevor er seine Frau beruhigen konnte, hatte er abermals das Haus verlassen müssen, weil er zur Behandlung einer übellaunigen Herzogin mit einem Nierenstein gerufen worden war. Bei seiner Rückkehr war Mrs Wintermute noch immer völlig aufgelöst und sein Abendessen verkocht. Wie Dr. Wintermute jetzt mit seinem Buch am Kaminfeuer saß, war das Letzte, wonach ihm der Sinn stand, von der Gouvernante seiner Tochter eine weitere Verpflichtung aufgehalst zu bekommen.
Nichts davon verriet seine Miene. Genau wie Clara war auch Thomas Wintermute in der Lage, eine Maske aufzusetzen. Er schenkte Miss Cameron einen Blick höflichen Interesses. »Was gibt es, Miss Cameron?«
»Sie hört nicht auf, zu weinen«, antwortete die Gouvernante.
Dr. Wintermute hielt immer noch den Finger zwischen die Buchseiten geklemmt. »Ich hätte erwartet, der heutige Zwischenfall würde Clara lehren, dass es besser ist, seine Gefühle im Zaum zu halten.« Mit gerunzelter Stirn blickte er Miss Cameron an. Er hatte sie in der Hoffnung eingestellt, ihr nüchterner, gesunder Menschenverstand würde für einen Ausgleich zu dem überreizten Wesen seiner Frau sorgen. »Lassen Sie Clara sich in den Schlaf weinen. Ich glaube nicht, dass es ihr schadet.«
Miss Cameron schien mit der Antwort nicht zufrieden zu sein. Nach kurzem Zögern sagte sie unverblümt: »Sie gefällt mir nicht.«
Dr. Wintermute ließ das Buch sinken. Die schlichte Feststellung Sie gefällt mir nicht genügte und schon klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Gütiger Gott, was, wenn das Kind krank war … Nein, es war sicher alles in Ordnung, beruhigte er sich selbst. Wäre Clara die Tochter eines anderen gewesen, hätte er gesagt, sie sei robust wie ein kleines Pony. Aber der Albtraum der Vergangenheit würde ihn bis zu seinem Tod verfolgen. Als die Cholera zuschlug, waren die Kinder urplötzlich erkrankt. Er sah noch seine Frau vor sich, wie sie um ihre toten Kinder weinte, die er nicht hatte retten können. Während er der Gouvernante die Treppe hinauf folgte, betete er im Stillen, während auf seinem Gesicht unverändert ein Ausdruck besonnener Aufmerksamkeit lag.
Clara war im Bett und rührte sich kaum. Ihre geballten Fäuste lagen auf den Decken. Dr. Wintermute drehte das Gaslicht auf, um seine Tochter untersuchen zu können. Sie wirkte eher wie ein Kind, das unter einem Schock stand als wie eines, das sich an seinem Geburtstag schlecht benommen hatte. Ihre Pupillen waren geweitet, ihre Wangen tränennass und trotzdem spannte sie die Gesichtsmuskeln an, als wollte sie ihren Kummer so wenig wie möglich zeigen. Beim Anblick des Vaters hob sich ihr Brustkorb, aber sie sagte nichts.
»Na, Clara«, sagte Dr. Wintermute besänftigend, »was ist denn los?«
Clara schluckte. »Mama hat gesagt …« Es gelang ihr nicht, den Satz zu Ende zu bringen. Stattdessen schaute sie ihn nur an, während Tränen über ihre Wangen strömten. Sie versuchte es noch einmal: »Mama …«
»Deine Mama liegt schon im Bett«, sagte Dr. Wintermute. »Und du solltest jetzt auch schlafen. Miss Cameron?« Er hob den Kopf und blickte zur anderen Seite des Zimmers, wo die Erzieherin stand. »Ich denke, Clara sollte eine Tasse heiße Milch mit viel Zucker und einem Teelöffel Brandy bekommen. Würden Sie sich bitte darum kümmern?«
»Ja, Sir«, erwiderte Miss Cameron und verließ den Raum.
Dr. Wintermute zog sich einen Stuhl neben das Bett. Er befühlte Claras Stirn. Ihre Haut war klamm und ihr Puls ging etwas zu schnell. Sie umklammerte seine Hand mit ihren Fingern. »Setz dich auf, damit ich dich untersuchen kann.«
Clara gehorchte. Ihr Gesicht verzog sich, weil sie sich bemühte, zu weinen, ohne ein Geräusch zu machen. Dr. Wintermute beugte sich vor, um ihr die Brust abzuhören. »Hast du Schmerzen?«
»Nein, Papa.«
»Ist dir schwindelig? Hast du Durst?«
»Nein, Papa.«
»Hast du Kopfweh?«
»Nein, Papa.«
Dr. Wintermute griff in die Tasche und wollte sein Taschentuch herausholen, als er sich
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