Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
zu gegebener Zeit verzeihen«, versicherte Dr. Wintermute. »Vergiss nicht«, fuhr er mit einem gequälten Lächeln fort, »du bist unser einziges kleines Mädchen. Deine Mutter liebt dich. So wie auch ich.« Es kostete ihn etwas Überwindung, sich über das Bett zu beugen und seine Tochter auf die Wange zu küssen.
Clara schlang die Arme um ihn und presste ihr Gesicht gegen seinen Ärmel. Er spürte, wie sie zitterte. »Ich hätte die Brunnenkresse essen sollen«, sagte sie. »Wenn ich die Brunnenkresse gegessen hätte, dann wäre ich –«
Dr. Wintermute ertrug es nicht mehr. »Herrgott noch mal, Clara! Du darfst so etwas nicht sagen. Du machst dich ganz krank damit.« Auf der Treppe ertönten Schritte, Miss Cameron kehrte mit einem Glas heißer Milch zurück. Er verspürte Erleichterung. Mit einem Mal konnte er es gar nicht erwarten, in sein friedliches Studierzimmer zurückzukehren, wo ein prasselndes Feuer und eine Karaffe mit Portwein auf ihn warteten.
Er befreite sich aus Claras Umklammerung, stand auf und strich seinen verknitterten Gehrock glatt. Clara blickte ihm fest ins Gesicht. Ihre Augenlider waren gerötet, aber ihr Blick schien ihn wie eine Lanze zu durchbohren. Dr. Wintermute verspürte plötzlich die unangenehme Gewissheit, dass Clara in die Tiefen seiner Seele geschaut hatte. An diesen Blick seiner Tochter sollte er in den folgenden Wochen oft zurückdenken.
7. Kapitel
Die Frauen im Spiegel
D er 6. November war auch der Geburtstag der Hexe. Es gab keine Geschenke, keine Briefe und keine Torte. Cassandra rechnete nicht mit Glückwünschen von irgendjemandem und sie hätte das auch barsch zurückgewiesen. Sie empfing keine Besucher außer dem Arzt, der ihre verwundete Hand untersuchte. Er bemühte sich ein weiteres Mal, Cassandra davon zu überzeugen, dass es das Sicherste wäre, sie zu amputieren. Cassandra griff mit ihrer gesunden Hand nach dem Tablett mit Arzneifläschchen neben dem Bett und schleuderte es in seine Richtung. Der Doktor wich zurück, stammelte eine Entschuldigung, und die Dienstboten beeilten sich, ihn zur Tür zu geleiten.
Erschöpft von ihrem Wutanfall, schlief Cassandra ein und erwachte erst wieder, als es bereits dunkel war. Der stechende Schmerz in ihrer Hand hatte sich verschlimmert. Von dem dröhnenden Pochen drehte sich ihr alles im Kopf. Sie fühlte sich wie ein Wolf, dessen Pfote in einer Falle klemmte. Sie wünschte, sie hätte den Mut eines Wolfes und könnte die Hand einfach am Gelenk abbeißen und damit den Schmerz abtrennen.
Cassandra setzte sich auf und zog die Bettvorhänge beiseite. Sie lechzte nach kühler Luft. Mit dem Daumennagel schrammte sie an dem Medaillon herum und suchte nach der kleinen Feder, um es zu öffnen. Endlich ertastete sie den Mechanismus und der Feueropal fiel auf die Steppdecke. Cassandra rieb ihn an ihrer geschwollenen Hand, rollte ihn hin und her wie ein Kind, das mit einer Murmel spielt.
Der Schmerz veränderte sich. Er verschwand nicht, aber wurde zu einem heftigen, quälenden Genuss. Tränen der Erleichterung stiegen der Hexe in die Augen. Sie wusste, der Phönixstein würde sie heilen. Unter dem geschwollenen Fleisch wuchsen die Knochen wieder zusammen. Sie heftete den Blick auf den kreisenden, sich drehenden Opal.
Das Farbenspiel schlug sie in seinen Bann. Seit einundsiebzig Jahren betrachtete sie den Stein und wurde des Anblicks nie überdrüssig. Manchmal waren die farbigen Flammen im Inneren des Steins scharfkantig wie Funken oder Kristalle, manchmal lang gezogen und sich windend wie Aale in einem scharlachroten Meer. Keine Freude in ihrem Leben konnte mit dem Zauber des Farbenspiels und der Betäubung des Schmerzes konkurrieren.
Wie war sie bloß auf die Idee gekommen, den Stein zu zerstören? Beinahe hätte sie ihn verloren. Sie hatte den silbernen Spiegel mit so viel Kraft geführt, dass sie ihre Mittelhandknochen zerschmettert hatte. Wenn ihr Arm nicht die Richtung gewechselt hätte, wäre alles dahin gewesen: Farben, Macht und Heilung. Cassandra schloss bei dem Gedanken die Augen. Unvermittelt schrie sie auf. Die Haut auf ihrem Handrücken kräuselte sich, als würde der Faden einer Naht zu straff gezogen. Unter dem Opal hatte sich eine Brandblase gebildet.
Cassandra schauderte, dann riss sie sich zusammen. Sie manövrierte den Stein zurück in das Medaillon und ließ den Verschluss einschnappen. Ein Fieberschub übermannte sie. Hastig schob sie den Wust an Decken beiseite und hievte sich aus dem Bett, um
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