Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Ghyll
P arsefall hatte noch nie in einer privaten Kutsche gesessen. Das Wageninnere war mit Leder und flauschigem Samt ausgekleidet. Außerdem lagen auf den Sitzen zwei Reisedecken bereit, genauer gesagt, zwei glänzende Felle irgendeines riesigen schwarzen Tiers.
»Schau bloß, Parsefall!«, rief Lizzie Rose. »Felldecken! Das ist aber nett, was?« Sie wickelte ein Ende der Decke um Ruby, die wieder in dem Leinenbeutel steckte. »Arme Ruby«, gurrte sie. »Sie friert.« Ruby zitterte theatralisch. Lizzie Rose küsste den Hund und gab kleine Koselaute von sich, was Parsefall furchtbar auf die Nerven ging.
Er schlang sich seine Decke um die Schultern und versuchte, sie festzuklemmen, indem er sich zurücklehnte. Das Fell roch komisch, und er musste niesen, dabei war ihm zum Weinen zumute. Er war halb erfroren und alles Vertraute lag Hunderte von Kilometern hinter ihnen. Zum ersten Mal seit Beginn der Reise dachte er an Clara, die in der vollgestopften Truhe eingepfercht war. Sie hatte keinen Einfluss auf das Ziel ihrer Reise und ihm erging es nicht besser. Sein Magen knurrte und er wünschte, sie hätten am Bahnhof in Lancaster zwei belegte Brote gekauft. Hier in dieser klaren, kalten Landschaft gab es keine Buden, in denen Kaffee ausgeschenkt wurde, keine Stände mit gebackenen Kartoffeln. Und sie konnten doch nicht den Schnee von den Bäumen essen …
Er schloss die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen. Die Zeit verging, bis ihn plötzlich ein »Parsefall, schau!« aufschreckte.
Lizzie Rose klang so aufgeregt, dass er von seinem Sitz aufstand und neben ihr durch das Wagenfenster blickte. Sie näherten sich einem Gebäude aus rotem Stein, halb Burg, halb Bauernkate, das an eine hohe Mauer mit einem offenen Torbogen gebaut war. Das Häuschen hatte einen kleinen Turm, der von einer hübschen Schneehaube gekrönt wurde. Der Anblick erinnerte an eine Kulisse für die Puppenbühne. »Isses das?«, fragte Parsefall.
»Das hoffe ich«, antwortete Lizzie Rose. »Es sieht aus wie aus einem Märchenbuch, nicht?«
Parsefall zuckte mit den Schultern. Er hatte noch nie ein Märchenbuch zu Gesicht bekommen. Die Pferde zogen die Kutsche durch den Torbogen, doch sie hielten nicht an.
Lizzie Rose schaute beklommen drein. »Ich glaube, das war nur das Torhaus.«
Parsefall rätselte, was ein Torhaus genau war. »Ha?«, sagte er mit skeptischem Tonfall.
»Sehr reiche Leute haben Torhäuser am Eingang zu ihren Anwesen«, erklärte Lizzie Rose. »Ich vermute, Mrs Sagredo ist sehr reich.«
»Ha«, sagte Parsefall noch einmal und biss dann die Zähne zusammen, damit sie aufhörten, zu klappern.
»Sie muss uns erwartet haben.« Es klang so, als wollte Lizzie Rose sich selbst Mut machen. »Sie hat den Wagen geschickt. Das war freundlich von ihr. Hoffentlich ist sie nicht sehr enttäuscht, dass wir ohne Grisini auftauchen.«
Parsefall streckte die Zunge raus, um zu zeigen, was er von Grisini hielt, aber Lizzie Rose war zu sehr in Gedanken versunken, um ihn zurechtzuweisen. Die Kutsche fuhr jetzt eine Allee entlang. Die Äste der Bäume waren nicht beschnitten worden und ragten weit in den Weg hinein. Sie schlugen an die Seiten der Kutsche und ließen Schnee herabrieseln. Parsefall war angespannt. Er konnte sich mühelos durch dichten Verkehr und enge Gassen schlängeln, aber umgeben von Bäumen fühlte er sich unwohl. Sie wirkten auf ihn lebendig – sie hatten zu viele Finger.
Als die Bäume am Ende der Allee endlich den Blick freigaben, sahen die Kinder das Haus oder vielmehr die Burg aus rotem Sandstein. Das Torhaus war lediglich eine Miniaturnachbildung gewesen. Jetzt lag das eigentliche Strachan’s Ghyll vor ihnen, und das Bauwerk wirkte eher furchteinflößend, denn malerisch. Rings um die Burgmauern wucherten Stechpalmen und das glänzende Grün der Blätter ließ die Steine blutrot schimmern. Ein runder Turm ragte bedenklich schief über ihnen auf, ganz so als wollte er sie warnen, hier Zuflucht zu suchen. Selbst für Parsefalls unkundige Augen wirkte er einsturzgefährdet.
»Das ist sehr herrschaftlich, nicht?«, sagte Lizzie Rose zaghaft. Die Kutsche kam abrupt zum Stehen.
Der Wagenschlag wurde geöffnet und Mr Fettle klappte die Treppe aus, damit die Kinder aussteigen konnten. Parsefall wunderte sich, dass der Kutscher die Auffahrt nicht bis zum Portal hochgefahren war. Er schaute Lizzie Rose fragend an, doch die war mit Ruby beschäftigt, die winselnd versuchte, sich aus dem Leinenbeutel zu befreien.
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