Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
angenehm warm. Ihre Lippen formten ein einziges Wort: Welches? Sie schloss die Augen und versuchte, sich auf die Frage zu konzentrieren. Sie wünschte, sie könnte den Stein zu einer Prophezeiung zwingen.
Ihr Kopf sackte zur Seite und sie überließ sich dem Schlaf.
Anfangs erzählte der Traum keine zusammenhängende Geschichte, nur Unsinn. Sie versuchte, einen Wirrwarr von Stickgarnen aufzudröseln und sie nach Farben zu sortieren: Scharlachrot, Meergrün, Pfauenblau und Weiß … Alles war verheddert und verknotet und es gelang ihr nicht, die Fäden zu entwirren. Plötzlich, so unvermittelt, dass sie zusammenzuckte, befindet sie sich in Venedig. Sie steht auf der Schwelle einer offenen Tür und blinzelt ins Sonnenlicht. Sie ist wieder zwölf Jahre alt und in der Schule des Klosters Santa Maria dei Servi.
Ein kühler Luftzug geht und wisperndes Lachen ist zu hören. Marguerite steht hinter ihr, so dicht, dass Cassandra den Kopf des jüngeren Mädchens an ihrer Schulter spürt. Es ist Karneval in Venedig und eines der Klostertore hat man vergessen abzusperren. Die Mädchen wechseln einen Blick und einvernehmlich treten sie nach draußen. Dann schließen sie die Tür hinter sich. Sie beben vor unterdrücktem Kichern, als sie die Straße hinunterrennen.
Allein der Wind verfolgt sie, ein ungestümer Wind, der die Wolken über den blauen Himmel jagt und das Konfetti auf dem Kopfsteinpflaster aufwirbelt. Sonnenstrahlen blitzen und tanzen auf dem Wasser der Kanäle. In der vergangenen Nacht hat es geregnet und die Pflastersteine sind noch feucht. Die Schuhe der Mädchen schlittern über die regennassen Steine.
Sie laufen Hand in Hand und geben einander Halt, wenn es rutschig wird. Eine Straße entlang und über eine Brücke, durch einen Hof und unter einem dämmrigen sottoportego hindurch. Und wieder hinaus ins Sonnenlicht, über den Buckel der nächsten Brücke und dann über weitere Stein- und Holzbrücken, sicher rund ein Dutzend, bis sie endlich auf der großen Piazza stehen. An den Balkonen hängen Flaggen und Banner und neben dem Glockenturm ist ein Puppentheater aufgebaut.
Die beiden stürmen darauf zu. In der Mitte der Miniaturbühne steht eine Puppe, eine Mädchengestalt in weißem Kleid. Nein, das ist keine Puppe, das ist ein Kind – ein lebendiges Kind, keine fünfunddreißig Zentimeter groß. Die Kleine lächelt, hält eine Hand hoch und öffnet sie. Die gespreizten Finger sind fein wie die Stacheln eines Seeigels. In der Mitte der winzigen Handfläche liegt ein pulsierendes Herz: scharlachrot, meergrün, pfauenblau und weiß …
Cassandra weiß, was das ist: der Feueropal.
Ein gellender Schrei entfuhr der Hexe und sie erwachte. Blinzelnd versuchte sie, hinter die Bedeutung des Geträumten zu kommen. Ein Teil davon war kein Traum, sondern Erinnerung gewesen. Sie dachte an jenen Tag in ferner Vergangenheit zurück, als sie und Marguerite entwischt und durch die Straßen Venedigs gestromert waren. Nur der Teil mit dem Puppentheater war ein Traum oder vielleicht eine Vision: der Teil mit dem Kind, das eine Puppe war, oder der Puppe, die ein Kind war … Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wie konnte sie nur das Mädchen vergessen, das Gaspare entführt hatte? Sie sah ihn wieder vor sich mit seinem blutigen Kopfverband: Er war schwach und benommen gewesen und sie hatte ihn gezwungen, ihr alle Einzelheiten zu erzählen. Er hatte Clara Wintermute in einen Puppenkörper gesperrt. War es möglich, dass die Kinder Clara nach Strachan’s Ghyll mitgebracht hatten?
Cassandras Gedanken rasten. Ein gefangenes Kind wäre leichte Beute. Nach nichts würde Clara Wintermute sehnlicher verlangen als nach einer Zauberkraft, um Grisinis Bann zu brechen. Nichts wäre leichter, als das Mädchen mit dem Feueropal zu ködern. Jetzt galt es nur noch, einen Weg zu finden, mit Clara trotz ihres erstarrten Zustands zu sprechen. Doch das würde machbar sein. Mit der Macht des verwünschten Steins würde es gelingen. Cassandra dachte an den komplizierten, kräftezehrenden Zauber, den sie vollbringen musste, und hätte beinahe vor Erschöpfung aufgestöhnt.
Wie satt, ach, wie satt sie die Magie hatte! Mit ihrer unverletzten Hand stemmte sie sich hoch und stand mühsam auf. Das Fernrohr fiel klappernd auf den Boden und rollte unter den Stuhl. Die Dielenbretter knarzten unter Cassandras Gewicht. Es klang wie das Jammern eines Tiers, das Schmerzen litt.
30. Kapitel
Dienstbotentratsch
R uby winselte,
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