Clara
Geselle.«
Astrid hakte sich bei ihm ein. »Die meisten scheinen Verwandte zu sein, aber ich werde die Schwester noch mal fragen.«
Ein paar Trauergäste drehten sich zu ihnen um und äugten.
Auch bei der Messe saßen sie in der letzten Bank, und Toppe fragte sich, was er hier eigentlich noch sollte.
Astrid beobachtete den Priester, wie er den Altarraum betrat, und sie staunte. Das sichere Schreiten, die kraftvollen Gesten, selbst bei der kleinsten Handlung, wohlgesetzt mit stimmigem Timing. Mit welcher Bestimmtheit er den Kelch auswischte. Der Mann stand auf einer Bühne, ein Schauspiel war das. Am fremdesten war ihr das ungeheuere Selbstbewußtsein, das der Mann ausstrahlte, unangenehm, aufdringlich. Durfte der sich so erheben? Sie verstand jetzt auch, warum sie nicht in den Altarraum stürmen durfte. Da gab es lauter heilige Gegenstände: Kelche, vor denen man das Haupt neigte, Bücher, die man küßte. Nein, falsch, Bücher, die er küßte, andere Leute durften das wohl nicht, oder?
Richtig absurd wurde es, als der Mann vor dem Tabernakel in Ehrfurcht versank, sich noch einmal sammelte, bevor er es öffnete, und was er dann herausholte, war eine Schüssel! Der Behälter für die Oblaten. Was sollte das? Ich bete dich an, du heilige Schüssel? Wie war das noch mit dem Goldenen Kalb und den Götzendiensten? Und dann die Unruhe, der harte Rhythmus: aufstehen – niederknien – hinsetzen, niederknien – hinsetzen – aufstehen, hinsetzen – aufstehen – niederknien. Nicht einer, der aus dem Takt kam. Wie sollte man sich dabei sammeln, zur inneren Einkehr finden? Oder ging es nicht darum?
Der Priester las jeden Satz ab, die Gebete auch, selbst beim Vaterunser hatte er ein Buch in der Hand. Astrid ärgerte sich. Konnte man denn nicht erwarten, daß der Mann seinen Job anständig machte und die wichtigsten Texte auswendig konnte, daß er frei sprach, Blickkontakt mit der Gemeinde hatte, damit ein Dialog zustande kam? Aber das war vielleicht der Punkt. Vielleicht ging es genau um diese Distanz. Deshalb die Altarbühne, die Gesten. Der Priester sollte wohl nicht Gleicher unter Gleichen sein. Was sagte der da? Schuld?
»Also, das ist doch wohl nicht wahr!« schreckte sie Toppe auf. »Bist du etwa auch schuldig geworden?«
»Was?« Er verstand kein Wort.
»Der Pfaffe da oben sagte gerade, wir seien alle …«
Er legte den Finger auf den Mund, ein paar Leute hatten sich schon umgedreht. »Pst. Wieso hörst du da überhaupt hin?«
Sie riß sich zusammen, aber als sie es endlich hinter sich gebracht hatten und zum Auto gingen, ließ sie sich nicht mehr bremsen. »Kein Wort über den Toten, nichts! Man kann ja schon froh sein, daß sein Name erwähnt worden ist, damit man wenigstens weiß, hinter wessen Sarg man da herläuft. Warum hat der nichts von dem Jungen erzählt? Er hat ihn doch angeblich so gut gekannt. Wenigstens vier, fünf Sätze. Sag mal, läßt dich das völlig kalt?«
»Mittlerweile ziemlich, ja.«
Sie blieb stehen und sah ihn aus kleinen Augen an. »Das muß am Alter liegen!«
»Vermutlich«, stimmte er ihr zu, aber sie legte erschrocken die Hand auf den Mund. »Oh Gott, Helmut, so hab ich das nicht gemeint.«
Er nahm sie in die Arme. »Wieso? Du hast doch recht.«
Heinrichs hatte schon ungeduldig auf seine Wachablösung gewartet und sich sofort auf den Weg zu Schneider gemacht. Auch Toppe hielt sich nicht lange auf, sondern fuhr gleich weiter nach Niedermörmter.
Astrid setzte erst einmal die Kaffeemaschine in Gang, goß die Pflanzen, trödelte eine Weile herum. Auf Heinrichs’ Schreibtisch lag die Tageszeitung. Als sie sich dabei ertappte, daß sie bei den Geschäftsanzeigen angekommen war, gab sie sich endlich einen Ruck und setzte sich an den Bericht über ihren Beerdigungsbesuch. Aber schon nach zwei Minuten gab sie wieder auf; es gab nichts zu berichten. Mißmutig holte sie sich noch einen Becher Kaffee und suchte alle Akten zum Fall Poorten zusammen. Dann also noch einmal ganz von vorn. Knapp eine Stunde später hatte sie alles gelesen und war genauso schlau wie vorher. Keine Erleuchtung, nicht einmal das Fitzelchen einer Idee. Verflucht noch mal, irgendwer war diesem Jungen ganz brutal an die Wäsche gegangen. Das hieß doch, er mußte irgend jemandem auf die Füße getreten haben, in die Quere gekommen sein. Aber dafür gab es nicht den geringsten Hinweis. ›Ein lieber Jungec, ›ein guter Kerle, ›naiv‹, und was sie da eben noch so gelesen hatte – alles konturlos und
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