Clara
besetzt. An den Wänden hingen gerahmte Kinderzeichnungen und -malereien. Durch die Sprossenfenster sah man genau auf den Eingang zum Albershof.
Ursula Günther brachte ein Tablett mit zwei dampfenden Steingutbechern, einer Schale Kandiszucker und einem Teller mit Pfefferkuchen.
»Meine Kinder haben mir zu Weihnachten so viel Selbstgebackenes geschenkt, daß ich bis zum Sommer damit auskomme. Probieren Sie ruhig, die schmecken noch prima.«
Astrid ließ sich gern von der Frau überfahren, sie gefiel ihr, und für eine ganze Weile war sie diejenige, die Fragen beantwortete: Was denn so eine attraktive Frau bei der Polizei machte, ob ihr die Arbeit gefalle, ob sie eine Waffe bei sich hätte, ob sie Familie habe und Kinder?
»Ach, wegen dem Jungen sind Sie hier. Ich habe das in der Zeitung gelesen und sein Foto gesehen. Bekannt kam er mir nicht vor. Wie kommen Sie denn gerade auf mich?«
»Ralf Poorten war im Griether Jugendkreis und hat anscheinend seine ganze Freizeit hier verbracht«, antwortete Astrid.
Ursula Günther kicherte. »Nicht gerade meine Altersgruppe.«
»Er ist am Freitag, dem 9. gestorben, und mit ziemlicher Sicherheit hat man ihn vorher zusammengeschlagen. Haben Sie an dem bewußten Abend hier im Ort etwas beobachtet oder entsprechende Geräusche gehört?«
Frau Günther schüttelte den Kopf, überlegte aber noch.
»Das war vorletzte Woche, nicht wahr? Da war ich überhaupt nicht hier, das ganze Wochenende nicht. Ich habe meine Freundin in Koblenz besucht.« Sie guckte gewitzt. »Und Sie glauben, der Junge ist hier in Grieth umgekommen? Donnerschlag, das würde mich aber wundern!«
Astrid machte eine vage Kopfbewegung. Draußen vor Albers’ Tor hatten sich ein paar Pilger eingefunden und schauten zum Turm hoch.
»Was haben Sie? Ach, die Leute da draußen.« Ursula Günther lachte leise und stand auf.
»Ja«, nickte Astrid. »Ich bin immer noch ein bißchen durcheinander. Der ganze Rummel hier. Von dieser Clara-Geschichte hatte ich bis vor ein paar Tagen noch nie was gehört. Kennen Sie Clara?«
»Na, und ob. Warten Sie. Ich hole uns noch etwas Tee.«
Sie war schnell wieder zurück mit einer braunglänzenden Kanne in der Hand. »Sie auch noch?«
Astrid beugte sich vor und schaute in ihren Becher. »Gern, aber nur noch halbvoll, bitte.«
Frau Günther goß nach, brachte die Kanne zum Ofen und stellte sie im Fach über der Feuerklappe ab. Dann setzte sie sich wieder.
»Clara kenne ich von Geburt an, und ich war vier Jahre lang ihre Lehrerin. In der Grundschule.«
»Das war ja zu der Zeit, als sie ihre Erscheinung hatte«, sagte Astrid gespannt.
»Ach ja, die Erscheinung …«
»Glauben Sie nicht daran?«
Die Lehrerin betrachtete die Tasse, die sie in der Hand hielt. »Ich glaube das, was ich sehe«, meinte sie schließlich und stellte die Tasse auf den Tisch. »Ich weiß, daß die ganze Familie Albers sehr religiös ist, und ich weiß, daß Clara schon als kleines Kind eine ungewöhnlich lebhafte Phantasie hatte.«
Aufmüpfig sah sie Astrid ins Gesicht. Die spürte ein leises Kitzeln im Bauch.
»Dann glauben Sie wohl auch nicht an die Wunderheilung und all den Kram?«
Aber Ursula Günther ging nicht darauf ein. »Als Clara meine Schülerin war, hatte ich öfter mal Ärger mit den Eltern. Ich war nämlich nicht damit einverstanden, daß sie das Kind ständig aus der Schule ließen wegen irgendeiner kirchlichen Veranstaltung, oder was weiß ich. Dabei ist Clara wahrhaftig hochintelligent, und das sollte man fördern, hab ich immer gesagt. Die hätte Großes vor sich, wenn sie es nur wüßte.«
Astrid fand ihren Faden nicht gleich wieder. »Ich habe bisher nur Fotos von Clara gesehen«, meinte sie nachdenklich, »aber selbst da ist mir ihre starke Ausstrahlung aufgefallen. Und alle, die mir von ihr erzählen, kriegen so einen verklärten Blick. Mir wird dabei ganz eigentümlich.«
Es war schwer zu sagen, was die Lehrerin dachte, aber schließlich nickte sie. »Ja, ich verstehe, warum Ihnen seltsam zumute ist. Aber wissen Sie, seltsam ist eigentlich nur, was man drübergestülpt hat. Es gibt nun mal Menschen mit einer starken Ausstrahlung, Menschen, denen die Herzen zufliegen. Das ist ein Geschenk, aber doch kein Wunder. Clara gehört sicher zu diesen Menschen, das ist keine Frage.«
»Ralf Poorten hatte ein Foto von Clara. Er hatte es aus einem Gruppenfoto ausgeschnitten und in eine Hülle gesteckt. Es lag auf seinem Nachttisch. Verstehen Sie, was ich meine?« Astrid stockte.
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