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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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auch.
    »Ich weiß nicht … Ist ja schon ziemlich alt …«
    »Sehen Sie einfach, was sich damit machen lässt. Wissen Sie was? … Gelegentlich brauche ich eher ein altes Hemd als ein neues … Merkwürdig, oder?«
    »Sie werden schon Ihre Gründe haben, Senhor Abel …« Sie wendete das Hemd hin und her, als wollte sie deutlich machen, wie abgetragen es war, und fügte hinzu: »Mein Silvestre hatte auch mal so eins. Ich glaube, ich habe noch ein paar Flicken … Wenigstens für den Kragen …«
    »Das macht doch zu viel Arbeit. Vielleicht lassen …«
    Abel stockte. Er sah in Marianas Augen, was er ihr antun würde, wenn er sie daran hinderte, sein Hemd zu flicken.
    »Vielen Dank, Senhora Mariana. Es wird sicher besser …«
    Mariana ging. So dick, dass man lachen musste, so gütig, dass einem die Tränen kamen.
    »Vielleicht ist es die Güte«, dachte Abel. »Aber das ist auch noch nicht alles«, dachte er dann. »Hier gibt es etwas, das ich nicht greifen kann. Sie sind glücklich, das sieht man. Sie sind verständnisvoll, sie sind gütig, das spüre ich sehr wohl. Aber irgendetwas fehlt noch, vielleicht das Wichtigste, vielleicht das, was die Ursache für ihr Glück, ihr Verständnis, ihre Güte ist. Vielleicht das, was – ja, das muss es sein – Ursache und Wirkung ihrer Güte, ihres Verständnisses und ihres Glücks ist.«
    Vorläufig fand Abel aus dem Labyrinth nicht heraus. Das stärkende Abendessen trug sicherlich dazu bei, dass seine Denkfähigkeit ein wenig abgestumpft war. Er dachte daran, etwas zu lesen, bevor er schlafen ging. Es war noch früh, erst kurz nach halb elf, er hatte noch viel Zeit vor sich. Aber er hatte keine Lust, zu lesen. Auch nicht, auszugehen, trotz des beständigen Wetters, des wolkenlosen Himmels, der milden Temperatur. Er wusste, was er draußen zu sehen bekommen würde: schlendernde oder hastende, interessierte oder gleichgültige Menschen. Dunkle Häuser, beleuchtete Häuser. Den egoistischen Lauf des Lebens, die Gier, die Furcht, die Sehnsucht, die Aufforderung der Frau, die an ihm vorübergeht, die Erwartung, den Hunger, den Luxus – und die Nacht, die allem die Maske abnimmt und das wahre Antlitz des Menschen zeigt.
    Er fasste einen Entschluss. Er wollte mit Silvestre plaudern, mit seinem Freund Silvestre. Er wusste, der Zeitpunkt war nicht günstig, der Schuster war mit einer dringenden Arbeit beschäftigt, aber selbst wenn er sich nicht mit ihm unterhalten konnte, wäre er zumindest in seiner Nähe und würde seine geschickten Handgriffe beobachten können, seinen ruhigen Blick spüren. »Ruhe, sonderbar …«, dachte er.
    Als Silvestre ihn den Erker betreten sah, sagte er lächelnd:
    »Heute gibt es kein Spielchen, oder?«
    Abel setzte sich ihm gegenüber. Die niedrige Lampe beschien die Hände des Schusters und den Kinderschuh, an dem er arbeitete.
    »Es hilft ja nichts! Sie haben keine festen Arbeitszeiten …«
    »Die hatte ich mal. Heute bin ich Unternehmer …«
    Er sprach das letzte Wort so aus, dass er ihm jede Bedeutung nahm. Mariana saß beim Wäschetrog, sie nähte das Hemd und warf ein:
    »Unternehmer ohne Kapital …«
    Abel holte seine Zigarettenschachtel heraus und hielt sie Silvestre hin.
    »Möchten Sie eine?«
    »Ja, gern.«
    Aber Silvestres Hände waren beschäftigt, er konnte keine Zigarette herausziehen. Abel nahm sie für ihn heraus, steckte sie ihm in den Mund und gab ihm anschließend Feuer. Alles ohne ein Wort. Niemand sagte etwas von Zufriedenheit, aber alle waren zufrieden. Die geschärfte Sensibilität des jungen Mannes nahm die Schönheit des Augenblicks wahr. Eine pure Schönheit. »Jungfräulich«, dachte er.
    Sein Stuhl war höher als die Hocker, auf denen Silvestre und Mariana saßen. Er sah ihre gebeugten Köpfe, ihr graues Haar, Silvestres zerfurchte Stirn, Marianas glänzende rote Wangen – und das heimelige Licht um sie herum. Abels Gesicht lag im Schatten, die Glut seiner brennenden Zigarette zeigte an, wo sich sein Mund befand.
    Mariana blieb nicht gern lange auf. Zudem ließen ihre müden Augen abends nach. Zu ihrem Kummer sackte ihr der Kopf plötzlich nach vorn. Für gesellige Abende war sie nicht zu haben. In den frühen Morgenstunden, da konnte man sie einladen.
    »Du träumst schon mit offenen Augen«, sagte Silvestre.
    »Was redest du, Mann! Ich bin doch keine Schlafwandlerin!«
    Aber es half nichts. Es vergingen keine fünf Minuten, da stand Mariana auf. Die Lider waren ihr schwer wie Blei, Senhor Abel

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