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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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besprechen und beräuchern und drohte ihm Prügel für den Fall an, dass er dem Vater davon erzählte.
    Durch die Hexerei-Zeremonie verwirrt, wurde Henrique nervöser und gereizter. Von den Drohungen der Mutter eingeschüchtert, schloss er sich dem Vater noch enger an.
    Carmens Bemühungen waren vergeblich – weder Hexereien noch Zärtlichkeiten bewirkten, dass er in seiner Anhänglichkeit nachließ. Sie wurde aggressiv. Suchte nach Vorwänden, ihn zu schlagen. Für jede Kleinigkeit erntete er eine Ohrfeige. Sie wusste, dass sie sich falsch verhielt, doch sie konnte sich nicht beherrschen. Wenn sie sah, dass der Junge weinte, nachdem sie ihn geschlagen hatte, weinte sie auch, heimlich, aus Wut und aus schlechtem Gewissen. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, bis sie nicht mehr konnte, obwohl sie wusste, dass sie es hinterher tausendfach bereuen würde. Sie hatte sich nicht mehr in der Gewalt. Sie wollte irgendetwas Ungeheuerliches anstellen, alles zerschlagen, was ihr vor die Füße kam, durch die Wohnung laufen und gegen Möbel und Wände treten, dem Mann in die Ohren brüllen, ihn rütteln, ihn ohrfeigen. Ihre Nerven lagen blank, sie hatte jede Vorsicht abgelegt, auch die vage Angst, die sie als verheiratete Frau vor ihrem Mann empfand.
    Eines Abends hatte Henrique seinen Hocker so nah zum Vater gerückt, dass Carmen spürte, wie ihr die Wut in einer Welle die Kehle hochkam. Ihr war, als würde ihr der Kopf platzen. Alles um sie herum drehte sich, und sie musste sich am Tisch festhalten, um nicht zu fallen. Durch ihre plötzliche Bewegung fiel eine Flasche herunter. Das Missgeschick, das Zerschellen der Flasche auf dem Boden war die Zündschnur, die ihren Zorn zum Explodieren brachte. Mit einem Aufschrei stieß sie hervor:
    »Ich hab’s satt! Endgültig satt!«
    Emílio, der seine Suppe aß und die Sache mit der Flasche gleichgültig hingenommen hatte, hob ruhig den Kopf, sah seine Frau mit seinen kalten hellen Augen an und fragte:
    »Was?«
    Bevor Carmen antwortete, warf sie ihrem Sohn einen so verärgerten Blick zu, dass der Junge sich duckte und an den Arm des Vaters lehnte.
    »Dich hab ich satt! Dieses Haus! Deinen Sohn! Dieses Leben! Alles hab ich satt!«
    »Es liegt an dir, das zu ändern.«
    »Das hättest du wohl gern! Dass ich gehe! Aber ich gehe nicht!«
    »Wie du möchtest …«
    »Wenn ich aber gehen will?«
    »Keine Sorge, ich hole dich nicht zurück.«
    Er setzte dazu ein spöttisches Lächeln auf, das für Carmen schlimmer war als eine Ohrfeige. Überzeugt, ihren Mann tief zu treffen, erwiderte sie:
    »Vielleicht doch … Denn wenn ich gehe, dann gehe ich nicht allein!«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Ich nehme meinen Sohn mit!«
    Emílio spürte, wie sich die Hand des Jungen in seinen Arm krallte. Er sah ihn kurz an, sah seine Lippen zittern und die Tränen in seinen Augen, und ihn überkam tiefes Mitleid, eine unbezwingbare Zärtlichkeit. Er wollte dem Jungen dieses unwürdige Schauspiel ersparen.
    »Was für ein idiotisches Gerede! Merkst du denn nicht, dass er hier vor dir sitzt!«
    »Das ist mir egal! Tu nicht so, als hättest du nicht verstanden!«
    »Schluss jetzt!«
    »Das bestimme ich!«
    »Carmen!«
    Sie reckte ihm ihr Gesicht entgegen. Ihr kräftiges Kinn, vom Alter schon etwas spitzer geworden, forderte ihn gleichsam heraus.
    »Ich habe keine Angst vor dir! Nicht vor dir und auch vor niemanden sonst!«
    Keine Frage, Angst hatte Carmen nicht. Aber plötzlich brach ihr die Stimme in der Kehle, Tränen strömten ihr übers Gesicht, und aus einem unwiderstehlichen Impuls stürzte sie sich auf ihren Sohn. Vor ihm kniend, die Stimme von Schluchzern unterbrochen, flüsterte, ja wimmerte sie geradezu:
    »Sieh mich an, mein Sohn! Ich bin deine Mutter! Deine Freundin! Niemand liebt dich mehr als ich! Sieh mich an!«
    Henrique zitterte vor Entsetzen und klammerte sich an den Vater. Carmen fuhr in ihrem abgehackten Monolog fort, sah immer deutlicher, dass ihr Sohn sich ihr entzog, und war dennoch nicht in der Lage, von ihm abzulassen.
    Emílio stand auf, entriss das Kind den Armen seiner Frau, zog sie hoch und setzte sie auf einen Hocker. Fast besinnungslos ließ sie es geschehen.
    »Carmen!«
    Den Kopf in die Hände gestützt, saß sie weit nach vorn gebeugt auf dem Hocker und weinte. Henrique auf der anderen Seite des Tisches sah aus, als hätte er einen Anfall. Sein Mund stand offen, als bekäme er keine Luft, die Augen weit aufgerissen, der Blick starr wie bei einem Blinden. Emílio eilte zu

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