Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
gesehen, als er mit Carmens Eltern in Lissabon zu Besuch gewesen war. Wie Carmen danach erfuhr (die Mutter hatte es ihr gesagt), hatte der Cousin erklärt, Emílio habe ihm nicht gefallen. Damals, noch frisch verheiratet, hatte sie das nicht ernst genommen, doch nun sah sie sehr wohl, dass Cousin Manolo recht hatte. Bei den Portugiesen gab es ein Sprichwort: »Aus Spanien kommen weder gute Winde noch gute Ehen …« Umgekehrt wäre es: »Aus Portugal kommen weder gute Ehemänner noch …« Aber Carmen besaß nicht genug Phantasie für ein treffendes Wort, das einem lusitanischen Übel entsprach, obwohl sie doch sämtliche Übel vor Augen hatte, die diesseits der Grenze gediehen.
Nachdem sie die Briefe geschrieben hatte, war sie erleichtert. Schon bald würden die Antworten eintreffen und mit ihnen Trost. Denn Carmen wollte ja nur, dass man sie bedauerte. Manolos Mitleid würde sie für den kleinen Verrat belohnen, den sie ihrem Mann gegenüber begangen hatte. Sie stellte sich ihren Cousin im Büro seiner Fabrik vor, daran konnte sie sich noch erinnern. Auf dem Schreibtisch ein Stapel Briefe, Aufträge und Rechnungen. Ihr Brief lag ganz oben. Manolo öffnete ihn, las ihn aufmerksam, las ihn noch einmal. Dann legte er ihn vor sich ab, blickte ein Weilchen versonnen, als erinnerte er sich an angenehme Dinge, und gleich darauf schob er sämtliche Papiere beiseite, griff nach einem Blatt (mit dem Aufdruck des Fabriknamens in großer Schrift) und fing an zu schreiben.
Bei diesen Erinnerungen nagte Heimweh an Carmens Herz. Heimweh nach allem, was sie zurückgelassen hatte, nach ihrer Stadt, dem Elternhaus, dem Fabriktor, ihrer Sprache, dem weichen Galicisch, das die Portugiesen nicht nachsprechen konnten. Bei dem Gedanken an all dies fing sie an zu weinen. Zwar plagte das Heimweh sie schon seit langem, doch so, wie es kam, verging es auch immer wieder, vertrieben von der zunehmend ins Gewicht fallenden Zeit. Alles verblasste, ihr Gedächtnis konnte die verschwommenen Bilder aus der Vergangenheit kaum einfangen. Doch nun stand ihr alles deutlich vor Augen. Und deshalb weinte sie. Sie beweinte das Gute, das sie verloren hatte und nie wieder zurückbekommen würde. Dort wäre sie unter ihren Leuten, Freundin unter Freunden. Niemand würde sich hinter ihrem Rücken wegen ihrer Sprache über sie lustig machen, niemand würde sie in so verächtlichem Ton wie hier
Galega
nennen. Ja, dort wäre sie eine
Galega
im Land der
Galegos
, wo
Galego
kein Synonym für »Laufbursche« oder »Kohlenträger« war.
»Ach, ich bin so unglücklich!«
Ihr Sohn betrachtete sie erstaunt. Unbewusst starrköpfig hatte er den Versuchen der Mutter widerstanden, ihn wieder für sich einzunehmen, hatte allen Prügeln und Hexereien widerstanden. Jede Tracht Prügel, jeder Zauberspruch trieb ihn zum Vater hin. Der Vater war still und ruhig, die Mutter war in allem maßlos, in ihrer Liebe wie in ihrem Hass. Aber nun weinte sie, und wie alle Kinder konnte Henrique niemanden weinen sehen, schon gar nicht die eigene Mutter. Er ging zu ihr, tröstete sie, so gut er konnte, wortlos. Er küsste sie, lehnte die Wange an die tränennasse Wange der Mutter, und kurz darauf weinten beide. Dann erzählte Carmen ihm lange Geschichten aus Galicien, wobei sie fast unbewusst aus dem Portugiesischen ins Galicische wechselte.
»Mama, ich verstehe nichts …«
Sie besann sich und übersetzte die wunderbaren Geschichten, die nur in ihrer Muttersprache Farbe und Wohlklang besaßen, ins verhasste Portugiesisch. Dann zeigte sie ihm Fotos, Bilder von Großvater Filipe und Großmutter Mercedes sowie ein Foto, auf dem Cousin Manolo mit anderen Verwandten zu sehen war. Henrique hatte sie alle längst gesehen, aber seine Mutter bestand darauf, sie zu zeigen. Bei einem Foto, auf dem ein Stück vom Garten ihrer Eltern zu sehen war, sagte sie:
»Hier habe ich oft mit Cousin Manolo gespielt …«
Die Erinnerung an Manolo wurde für sie zur Obsession. Auf geheimen Wegen landeten ihre Gedanken immer bei ihm, und wenn sie merkte, wie lange sie schon an ihn dachte, reagierte sie verwirrt. So eine Dummheit. Es war schon so lange her … Sie war alt, wenn auch erst dreiunddreißig. Und außerdem verheiratet. Sie hatte ihr Heim, einen Mann, ein Kind. In so einer Situation darf niemand derlei Gedanken haben.
Sie legte die Fotos weg, wandte sich der Hausarbeit zu, betäubte sich. Aber die Gedanken kehrten zurück – an ihre Heimat, ihre Eltern, ganz zum Schluss an Manolo, als wäre
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