Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
die Erinnerung an sein Gesicht und seine Stimme abgedrängt worden und käme deshalb später dazu.
Abends im Bett, neben ihrem Mann, lag sie lange wach. Die Sehnsucht nach dem früheren Leben wurde gebieterisch, forderte gleichsam, dass sie sofort handelte. Seit sie sich den Gedanken hingab, die sie weit wegführten, wurde sie ruhiger. Ihr stürmisches Temperament mäßigte sich, milde Gelassenheit nistete sich in ihrem Herzen ein. Emílio wunderte sich, sagte aber nichts. Er hielt ihre Veränderung für eine neue Taktik, um die Liebe ihres Sohnes zurückzugewinnen. Und er glaubte, seine Vermutung sei richtig, denn er sah, dass Henrique sich nun zwischen ihnen aufteilte. Als wollte er sie versöhnen. Auf naive Art und vielleicht unbewusst versuchte er, beide für das zu interessieren, was ihn beschäftigte. Mit entmutigendem Ergebnis. Sowohl Vater wie Mutter, sonst immer bereit, zu antworten, wenn er sie einzeln ansprach, taten, als wären sie in Gedanken, wenn er sie beide in die Unterhaltung einbeziehen wollte. Henrique verstand das nicht. Bis vor kurzem hatte er den Vater nicht sehr geliebt, doch hatte er gemerkt, dass er ihn vorbehaltlos lieben konnte; vor der Mutter hatte er eine Zeitlang Angst gehabt, doch nun weinte sie, und er sah ein, dass er sie immer geliebt hatte. Er liebte sie beide und merkte, dass sie sich immer weiter voneinander entfernten. Warum sprachen sie nicht miteinander? Warum sahen sie sich manchmal an, als kennten sie sich nicht oder als kennten sie sich zu gut? Wieso waren die Abende so still, als hätte sich seine Kinderstimme dahin verirrt, in einen riesigen, dunklen Wald, in dem jedes Echo unterging und aus dem sämtliche Vögel geflohen waren? Sehr, sehr weit fort waren die Liebesvögel geflohen, der Wald war versteinert, ohne Leben, das nur die Liebe hervorbringt.
Die Tage zogen sich dahin. Die Post hatte Carmens Briefe durch das Land und über die Grenze befördert. Auf demselben Weg (vielleicht auch mit Hilfe derselben Hände) traten die Antworten ihre Reise an. Mit jeder Stunde, jedem Tag kamen sie näher. Carmen wusste nicht, was sie eigentlich erhoffte. Mitleid? Liebe Worte? Ja, die brauchte sie. Dann wäre sie nicht mehr so allein, sie hätte das Gefühl, dass ihre richtigen Verwandten sich bei ihr befänden. Sie sah ihre mitleidigen Gesichter vor sich, wie sie sich über sie beugten und ihr Mut zusprachen. Mehr durfte sie nicht erwarten. Aber weil sie an Manolo geschrieben hatte, erhoffte sie vielleicht doch mehr. Die Tage vergingen. In ihrer Ungeduld bedachte sie nicht, dass ihre Mutter ziemlich schreibfaul war, dass es in ihrem Briefwechsel lange Pausen gab. Sie glaubte schon, man habe sie vergessen …
Emílio, an sein Vertreterdasein gebunden, sah den Tag seiner Befreiung in immer weitere Ferne rücken und ließ die Zeit vergehen. Er hatte angekündigt, er wolle gehen, aber er tat es nicht. Ihm fehlte der Mut. Wenn er kurz davor war, über die Türschwelle zu treten, um nie wiederzukommen, hielt ihn irgendetwas zurück. Die Liebe war aus seinem Heim verschwunden. Er hasste seine Frau nicht, aber er war es leid, unglücklich zu sein. Alles hat seine Grenzen: Unglücklich zu sein kann man bis hierhin ertragen, aber nicht bis dorthin. Und doch ging er nicht. Seine Frau machte keine nervenaufreibenden Szenen mehr, sie war ruhig und friedlich geworden. Sie wurde nicht mehr laut, beklagte sich nicht mehr über ihr verpfuschtes Leben. Der Gedanke, dass sie womöglich einen Neuanfang für das gemeinsame Leben anstrebte, erschreckte ihn. Er fühlte sich inzwischen viel zu eingeengt, um sich dies zu wünschen. Allerdings sprach Carmen nur mit ihm, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Nichts rechtfertigte also die Befürchtung, sie wolle sich versöhnen. Dass es ihr gelungen war, den Sohn für sich zu gewinnen, war offensichtlich, doch um ihn selbst zu halten, bedurfte es eines sehr großen Schrittes, zu dem sie anscheinend nicht bereit war. Die Veränderung beschäftigte ihn: Henrique hatte sich wieder der Mutter zugewandt, worauf wartete sie, um erneut ihre Szenen zu machen? Nachdem er sich die Frage gestellt, aber die Antwort nicht gefunden hatte, zuckte Emílio gleichgültig die Achseln und ließ die Zeit gewähren, als könnte sie ihm den Mut geben, der ihm fehlte.
Bis ein Brief eintraf. Emílio war nicht zu Hause, Henrique war zum Laden gelaufen. Als der Postbote Carmen den Brief reichte und sie die Schrift ihrer Mutter erkannte, überlief sie ein Schaudern.
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