Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
erst vor wenigen Wochen errichtet worden. »Wenn der Marshal so weitermacht«, tönte der Fahrgast, »hat er bald keinen Platz mehr im Knast.«
Die Kutsche war vollbesetzt. Sechs Personen, darunter auch der Städter, der seine Frau auf Händen getragen hatte, saßen sich auf dem schlecht gefederten Wagen gegenüber. Es war keine normale Kutsche, wie Clarissa sie aus den Buffalo-Bill-Heften in Erinnerung hatte, eher ein offener Wagen mit einem wenig stabilen Gerüst, über das man bei schlechtem Wetter eine Plane spannen konnte. »Sind Sie sicher, dass Sie mit uns fahren wollen?«, fragte auch der Kutscher, ein junger Mann mit Schiebermütze. »In Ihrem …« Er zögerte etwas. »In Ihrem Zustand würde ich lieber noch ein paar Tage warten. In den Bergen könnten wir in ein Unwetter kommen, und die Plane … nun, sie hilft leider nicht viel.« Er wandte sich an das Ehepaar. »Das gilt auch für Sie.«
»Ich hab’s eilig«, sagte Clarissa. Auch der Städter und seine Frau ließen sich nicht von ihrem Plan abbringen, obwohl sie bereits zu zweifeln schienen.
»Dann nehmen Sie wenigstens die Decken.« Er gab Clarissa und der anderen Frau jeweils drei Wolldecken und empfahl ihnen außerdem, sich in Fahrtrichtung zu setzen, damit ihnen auf dem holprigen Trail nicht übel wurde.
Die Fahrt durch das Copper River Valley verlief ohne Zwischenfälle. Am Fluss war die Straße relativ breit, der Boden war felsig, und die Pferde hatten kaum Hindernisse zu überwinden. Obwohl die dunklen Wolken noch immer bedrohlich über den Bergen hingen, entspannte sich Clarissa immer mehr, und auch die Frau des Städters war wieder guter Dinge. Sie hielten jeden Abend an einem Roadhouse, bekamen dort ein reichhaltiges Abendessen, ein Zimmer für die Nacht, ein Frühstück und ein Sandwich für unterwegs. In den Tickets waren die Mahlzeiten und Übernachtungen bereits inbegriffen. Clarissa freundete sich ein wenig mit der Frau des Städters an, erfuhr von ihr, dass sie ihren Mann, einen Buchhalter aus Seattle, erst vor einigen Wochen geheiratet hatte und nicht die geringste Ahnung besaß, wo sie sich befand.
Jenseits des Gakona River, als sie nach Nordwesten abgebogen waren und in die Ausläufer der Berge fuhren, veränderte sich die Stimmung. Nicht nur beim Kutscher, der jetzt kräftiger arbeiten musste, um die Pferde voranzutreiben, sondern auch bei den Passagieren, die beim Anblick des steilen und kurvenreichen Trails zunehmend nervöser wurden. In die Wolken, die seit Tagen über den Bergen hingen, schien Leben gekommen zu sein, der Wind wurde kälter und böiger, und die ersten Regentropfen fielen vom Himmel herab.
In einer Kurve hielt der Kutscher an. Er stellte die Bremse fest und sprang vom Wagen, zog die Planen zu beiden Seiten des Wagenaufbaus herunter und zurrte sie fest. »Auf dem Pass kann es ungemütlich werden«, warnte er die Passagiere. »Halten Sie sich gut fest! Ich hab alles unter Kontrolle, okay?«
Schon wenig später prasselte der Regen so laut auf die Plane, dass sie einander kaum noch verstanden. Der Wind zerrte an der Plane, fand einen Weg in die Kutsche und ließ die Haare der beiden Frauen flattern. Der Städter und seine Frau hüllten sich in eine Decke und klammerten sich aneinander, einer der anderen Männer war so blass geworden, dass Clarissa schon Angst hatte, er müsste sich übergeben. Von draußen klangen die Anfeuerungsrufe des Kutschers herein. Er trieb die Pferde mit wüsten Flüchen an und schien vollkommen vergessen zu haben, dass zwei Damen in seiner Kutsche saßen.
Clarissa hatte keine Angst vor stürmischem Regen. Während der Fangfahrten mit ihrem Vater hatte sie so manchen Sturm auf offener See erlebt. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie die aufgewühlte See ihr Boot in tiefe Wellentäler getrieben und die Gischt ihr Boot in weißen Schaum gehüllt hatte. Dagegen war die Fahrt in der schwankenden Kutsche das reinste Kinderspiel. Angst hatte sie nur um ihr ungeborenes Kind, vor einem Unfall, der sein Leben gefährden konnte, und der Erschütterung, die ihr kaum noch Ruhe ließ.
Doch als sie die letzte Steigung zum Pass erreichten, und der Wind so heftig an der Plane zerrte, dass sie sich löste und mit einem hässlichen Geräusch nach oben flog, bekam auch sie es mit der Angst zu tun. Jetzt waren sie ungeschützt, und der Regen peitschte mit solcher Wucht in den Passagierraum, dass ihre Wolldecken innerhalb weniger Sekunden klitschnass waren, und sie bis auf die Haut durchnässt wurden.
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