Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
breitbeinig im Schnee, die Füße steckten in hochschaftigen Mokassins und ihr Körper war in eine bunte Wolldecke der Hudson’s Bay Company gehüllt. Ihre Hände wiesen zum Himmel, und ihr monotoner Singsang wehte mit dem Wind in die Dunkelheit. Ein Bild aus längst vergangenen Tagen, als noch keine Weißen in Alaska lebten und keine Missionare das Christentum gepredigt hatten und die Indianer noch allein mit den Geistern waren, übernatürlichen Kräften, die alle ihre Gedanken bestimmten.
Dolina bat die Geister, das Unglück, das mit den schwarzen Eulenfedern gekommen war, von ihrem Roadhouse fernzuhalten und Dezba zu vertreiben. Ihre Angst vor der indianischen Hexe war so groß, dass sie ihr in der traditionellen Kleidung ihres Volkes entgegentreten musste, um sie mit ihren Liedern und Gebeten zu vertreiben. Clarissa war nicht abergläubisch, hatte jedoch lange genug bei den Indianern gelebt, um zu wissen, dass man nicht alles mit dem Verstand plausibel machen konnte. Oder wie sollte sie sonst erklären, dass ihr seit beinahe vier Jahren ein geheimnisvoller Wolf folgte, dabei mehrere tausend Meilen zurücklegte und genau zu wissen schien, was in ihr vorging und wann sie Hilfe brauchte? Vielleicht gab es sie ja doch, diese Geister, und vielleicht existierte auch Dezba, die indianische Hexe, die allein durch die Wildnis zog und kleine Kinder stahl.
Der Singsang verstummte, und Dolina kehrte ins Haus zurück. Clarissa vertraute einer Eingebung und wartete auf sie. »Erschrick bitte nicht«, sagte sie, als sie den Raum betrat. Ein kalter Lufthauch fuhr die geöffnete Tür herein und bauschte ihr Nachthemd auf. »Du brauchst keine Angst zu haben, Dolina. Nicht dir hat Dezba die Federn geschickt, sondern mir. Dir und deinem Mann wird sie nichts tun. Sie hat es auf mich abgesehen.«
»Ich habe auch für dich gebetet«, sagte die Indianerin.
»Und dafür bin ich dir sehr dankbar. Deine Gebete und Lieder werden uns helfen, sie von uns fernzuhalten. Was sollte sie uns auch schon tun? Alex und ich haben kein Kind, das sie uns wegnehmen kann. Und wir sind schon genug geprüft und werden ihr nicht erlauben, sich in unser Leben einzumischen. Wenn es sie tatsächlich gibt und sie die schrecklichen Verbrechen begeht, die man ihr nachsagt, werden wir sie zur Rechenschaft ziehen. Und wenn sie mit den bösen Geistern im Bunde steht, werden wir ihre Macht brechen. Wir haben keine Angst. Alex und ich sind stark genug.«
»Sieh dich vor«, warnte Dolina. »Auch Dezba ist stark.«
Am nächsten Morgen hatte Clarissa die indianische Hexe schon beinahe aus ihren Gedanken verdrängt. Lediglich Dolinas ernste Miene, als sie das Frühstück servierte, erinnerte sie noch daran. Es gab Pfannkuchen mit Sirup und frische Biskuits, die Alex so gut schmeckten, dass er gleich zwei Portionen verdrückte. Sein Gesicht war nicht mehr so blass wie an den Tagen zuvor, und auch seine Stimmung hatte sich gebessert. Er war bester Laune. »Sie verstehen zu kochen, Ma’am«, sagte er zu Dolina, und die verneigte sich errötend, wurde sie doch selten mit »Ma’am« angesprochen.
Zum ersten Mal stieg Alex an diesem Morgen wieder auf die Kufen, allerdings nur, solange der Trail breit und eben war, und um ein Gefühl für den Schlitten zu bekommen. Er merkte selbst, wie ihm seine Kopfwunde noch zu schaffen machte, und setzte sich sogar freiwillig auf die Ladefläche. Öfter als sonst legten sie kurze Pausen ein, um Alex die Möglichkeit zu geben, sich zu recken und strecken und langsam wieder Kraft zu gewinnen. Das Wetter blieb ihnen wohlgesinnt. Der Himmel war klar, es schneite nicht, und als sich der Horizont im Osten rötlich färbte, spürten sie sogar die Sonne im Gesicht. Ihre Huskys waren bester Laune und freuten sich über den breiten Trail, der es ihnen erlaubte, schneller als bisher zu rennen.
Weder verdächtige Schatten noch geheimnisvolles Kichern störten sie auf ihrem Weg nach Norden. Zu beiden Seiten des Trails blieb der Wald dunkel und stumm. Wie die Goldsucher, die im Sommer über den Trail nach Fairbanks gekommen waren, hatte Clarissa das Gefühl, in eine bessere Zukunft zu fahren. Nach der Verurteilung von Frank Whittler und der gelungenen Operation ging es endlich wieder aufwärts. Vorbei die turbulenten und dramatischen Ereignisse, die sich ihnen bisher in den Weg gestellt hatten. Kein Frank Whittler mehr, der sie bis zum Polarkreis jagte, keine bedrohliche Krankheit mehr, die eine lebensgefährliche Operation erforderte.
Ihr
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