Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und blickten sich aufmerksam um. Wie erwartet, war niemand zu sehen. Lediglich einige Raben erhoben sich aus einem Gebüsch, als sie ins Unterholz vordrangen. Hatte ihr Gekrächze wie Kichern geklungen?
Eine Eulenfeder wirbelte durch die Dunkelheit und blieb an Clarissas Anorak hängen. Sie griff danach und blickte sie neugierig an. Für die Indianer war die Eule ein Todesbote, sie brachte großes Unglück. Nur durch tagelange Gesänge und Gebete hatte man eine Chance, das drohende Unglück abzuwehren. Sie hatte lange genug bei den Indianern gelebt, um ein bedrückendes Gefühl beim Anblick der Feder zu empfinden.
»Was hast du denn?«, fragte Alex besorgt.
Sie zeigte ihm die Eulenfeder. »Du weißt, was die Indianer sagen.«
»Natürlich weiß ich das.« Alex nahm die Feder und betrachtete sie. »Machst du dir etwa Sorgen wegen des Aberglaubens? Der gilt doch nur für Indianer, oder meinst du, sonst hätte ich die Operation überstanden? Die Eule kann uns nichts anhaben.« Er ließ die Feder ins Unterholz segeln.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Clarissa.
»Ausnahmsweise mal.« Er grinste verschmitzt.
Alex schien wieder der Alte zu sein. Er wirkte wie ausgewechselt, war wieder der Mann, den sie lieben und schätzen gelernt hatte, und hatte sogar seinen Humor wiedergefunden. Nur seine Bewegungen waren noch etwas unsicher. Alle paar Schritte stützte er sich an einem Baumstamm ab, und einmal blieb er sogar länger stehen, bevor er langsam weiterging. Auch wenn er es nur widerwillig zugab, hatte er doch noch einigen Nachholbedarf.
Bei den Hunden beugte er sich zu Emmett hinunter. »Meine Schuld«, räumte er ein, »ich hab ganz vergessen, dass man sich festhalten muss, wenn man auf dem Trittbrett steht.« Er kraulte den Leithund zwischen den Ohren und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Clarissa nicht verstand. »Gib mir noch ein paar Tage, Emmett, bis ich den blöden Verband los bin.« Er ging zu den anderen Hunden und begrüßte jeden mit einem freundschaftlichen Klaps. »Ihr wisst doch … Frauen sind sowieso die besten Musher.«
Etwas langsamer als vorher, damit Alex nicht so durchgeschüttelt wurde, fuhr Clarissa weiter. Der Trail führte jetzt an einem lang gestreckten See entlang, dessen Eis im Zwielicht so stark glänzte, dass es sie blendete. Über den Fichten am Ufer hingen leuchtende Schleier. Der Himmel war klar, das Sonnenlicht am Horizont so freundlich wie schon seit Wochen nicht mehr. Als würde sich auch die Natur über Alex’ Genesung freuen.
Clarissas leicht gedrückte Stimmung konnte es dennoch nicht vertreiben. Sie machte sich große Sorgen. Mit seinem dicken Kopfverband erinnerte Alex sie an eine Fotografie aus dem Krieg gegen die Spanier, die einen Mann zeigte, der schwer verwundet aus Kuba zurückkehrte. Kräftig genug, um einen Schlitten zu steuern, würde er schon in ein paar Tagen wieder sein. Und wenn sie nach Hause kamen, würde er sicher wieder Holz schlagen und seine Fallen auslegen können.
Aber was war mit diesen Stimmungsschwankungen, vor denen sie Dr. Blanchard gewarnt hatte? Würde er öfter so ein Verhalten an den Tag legen wie gerade eben? Müsste sie jederzeit auf seine Launen gefasst sein? Würde er nicht nur die Hunde, sondern auch sie beschimpfen und seinen ganzen Frust bei ihr abladen? Sie musste Geduld mit ihm haben, schärfte sie sich ein. Er war dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen und konnte nichts dafür, wenn sein Kopf verrücktspielte. Er war ein guter Mann, das hatte er oft genug bewiesen, und wenn sie ihn liebte, würde sie über seine Ausbrüche hinwegsehen. Irgendwann würde er ihre Geduld belohnen und wieder ganz so sein wie früher. In ein paar Monaten vielleicht.
Als könnte er ihre Gedanken erraten, drehte er sich zu ihr um und lächelte ihr zu. Seine Lippen bildeten die Worte »Ich liebe dich!« Sie antwortete mit denselben Worten und verspürte plötzlich ein Glücksgefühl, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Ein warmer Schauer lief durch ihren Körper und trieb ihr Tränen in die Augen, doch diesmal waren es Tränen des Glücks, Alex wieder bei sich zu haben und nach der Operation außer Lebensgefahr zu wissen. Was machte es da, wenn es noch Monate bis zu seiner vollständigen Genesung dauerte? Ein Blick von ihm, ein Lächeln wogen den ganzen Kummer auf. Jeder dieser winzigen Glücksmomente war mehr wert als alles andere.
Gegen Abend erreichten sie eines der Roadhouses, die
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