Clarissa - Wo der Himmel brennt
dem leichten Schneetreiben war seine Gestalt nur undeutlich zu erkennen, aber er bewegte sich … Er bewegte sich wie Alex, und fast glaubte sie, auch sein vertrautes Lächeln zu sehen, wenn seine Mundwinkel nach oben zeigten, und er eine scherzhafte Bemerkung machte.
Sie trat näher ans Fenster und rieb mit der flachen Hand über die Scheibe. Er hatte auch seine Statur, die breiten Schultern, die kräftigen Arme, und war wie ein Fallensteller gekleidet. Wollhosen, Anorak, Fellmütze und über seinen Schultern hing ein Lee-Enfield-Gewehr, das erkannte sie inzwischen aus weiter Ferne. Unsinn, sagte sie sich, so waren viele Männer angezogen, und ein Lee-Enfield-Gewehr hatte jeder Zweite oder Dritte in dieser Gegend. Du bildest dir was ein, schalt sie sich, was sie aber nicht davon abhielt, in den Flur zu laufen und die Tür aufzureißen. »Alex! Alex! Ich bin’s, Clarissa!«, rief sie, doch der Fallensteller war bereits auf seinem Schlitten an ihnen vorbeigefahren und trieb lautstark seine Hunde an: »Giddy-up! Wollt ihr wohl laufen? Vorwärts …« Weiter konnte sie ihn nicht hören.
Giddy-up … So feuerte Alex seine Hunde an. Giddy-up, Giddy-up!
Sie entdeckte einen Hundeschlitten vor dem Restaurant und drehte sich zu den beiden Goldsuchern um. »Ist das Ihr Schlitten?« Und als sie nickten: »Ein Notfall! Ich leihe ihn mir für ein paar Stunden aus. Ich bringe ihn zurück.«
Bevor die Goldsucher etwas einwenden konnten, stand sie auf dem Trittbrett und wendete den Schlitten mit lauten Anfeuerungsrufen: »Gee! Gee! Vorwärts, ihr Lieben. Ich weiß, wir kennen uns nicht, aber ihr müsst mir helfen! Vorwärts, dem Schlitten nach, der gerade hier vorbeigekommen ist!«
Vor den Augen der Goldsucher und anderer verdutzter Männer, die es nicht gewohnt waren, eine Frau auf dem Trittbrett eines Hundeschlittens zu sehen, wendete sie den Schlitten und raste die First Avenue hinauf. Die Häuser und Zelte der Stadt flogen an ihr vorbei. Beide Hände an den Haltestangen und den Kopf gegen das Schneetreiben gesenkt, fuhr sie aus der Stadt, vorbei an einigen leichten Mädchen, die trotz der Kälte nur wenig von ihren Reizen verhüllten und ihr etwas zuriefen, was sie nicht verstand. Sie kicherten laut.
Am Ende der Stadt folgte sie dem Trail, den die meisten Goldsucher und Fallensteller nahmen, wenn sie Dawson City verließen: in steilen Serpentinen zu den Flüssen hinunter, auf das feste Eis des Yukon River, obwohl sie Alex, oder den Mann, den sie für ihn hielt, nirgendwo sehen konnte und allein ihrem Instinkt folgte. Über den Yukon nach Nordwesten, weg von den Goldfeldern, die vor allem am Klondike lagen, und hinein in die unberührte Wildnis, die sich nördlich der Stadt erstreckte. Dort wäre Alex zu Hause, dort würde er irgendwo ein Blockhaus bauen, ein neues Zuhause, in dem sie die letzten Monate vergessen und eine gemeinsame Zukunft schaffen konnten.
Erst nach einigen Meilen wurde ihr klar, dass sie einem Phantom folgte. Der Fluss zog sich wie ein endloses breites Band nach Nordwesten, und sie hätte ihn längst sehen müssen, wenn er diesen Weg eingeschlagen hatte. Aber vor ihr war nur grenzenlose Leere, und die Hunde waren lange nicht so erfahren und schnell, um einen Fallensteller mit einem eingespielten Team einzuholen. Es hatte keinen Zweck, sie musste umkehren, bevor die beiden Goldsucher sie anzeigten, und sie erst recht mit North West Mounted Police zu tun bekam. »Whoaa! Whoaa!«, rief sie den Huskys zu und hielt den Schlitten an.
Eine Weile blieb sie stehen und starrte in die Ferne, versuchte die nebligen Schleier über dem Schnee und dem Eis mit ihren Augen zu durchdringen. Der Fluss blieb einsam und verlassen, keine Spur von einem anderen Musher. »Alex!«, rief sie. »Warum zeigst du dich nicht, wenn du es bist? Warum läufst du vor mir weg?« Ich habe mich wohl geirrt, dachte sie, es war nicht Alex, er kann es nicht gewesen sein. Sie bildete sich etwas ein.
Niedergeschlagen kehrte sie in die Stadt zurück. Sie lieferte den Schlitten bei den beiden Goldsuchern ab, die wartend vor dem Restaurant in der First Avenue standen und erleichtert waren, als sie vor ihnen hielt. »Und wir dachten schon, Sie wären auf und davon«, sagte einer der beiden. »Nicht, dass was Wertvolles auf dem Schlitten wäre, das bisschen Gold, das wir gefunden haben, tragen wir bestimmt nicht mit uns herum, aber um den Whisky in unserem Vorratssack wäre es wirklich schade gewesen. Nichts für ungut, Ma’am.«
Clarissa
Weitere Kostenlose Bücher