Clarissa - Wo der Himmel brennt
Sie öffnete die Plane und kletterte hinein. Zum wiederholten Male in dieser Nacht war sie froh, ihre Hose und nicht den Rock angezogen zu haben, sonst hätte sie sich auf der Strickleiter und auch jetzt unweigerlich verheddert. So schaffte sie es mühsam, in das schwankende Boot zu kommen und zog rasch die Plane über sich zu. Nur einen schmalen Spalt, damit sie etwas sehen konnte, ließ sie offen.
Kaum hörte das Boot auf zu schaukeln, sah sie einen Matrosen zur Brücke hinaufsteigen. Gleich hinter ihm folgte der Kapitän, ein korpulenter Mann mit einem weißen Vollbart, und trat an die Reling. Selbst aus der Ferne sah sie ihm an, wie wenig erfreut er über die nächtliche Ruhestörung war. »Ich bin Kapitän James W. Hall. Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, um hier mitten in der Nacht aufzutauchen. Wenn Sie uns nur was verkaufen wollen …«
»Ich verfolge eine gefährliche Straftäterin«, drang Whittlers Antwort nach oben, »und habe den begründeten Verdacht, dass sie an Bord Ihres Schiffes ist. Und jetzt helfen Sie mir endlich an Bord, sonst muss ich Sie leider wegen Behinderung der Justiz in einem dringenden Fall verantwortlich machen.«
Der Kapitän rief zwei Matrosen herbei, die ein Seil über die Reling warfen und Whittler an Bord halfen. Er hatte sich in den vergangenen zwei Jahren kaum verändert, wirkte immer noch so ernst und unnahbar wie damals und verriet allein durch seine arrogante Haltung, dass er sich für etwas Besseres hielt. In seinem vornehmen Mantel passte er eher auf einen der neuen und luxuriösen Transatlantik-Dampfer als auf dieses betagte Dampfschiff.
Nachdem er sich mit knappen Worten vorgestellt und den Grund für sein Kommen geschildert hatte, sagte er: »Clarissa Carmack ist eine sehr gerissene Straftäterin. Sie muss hier sein und sich irgendwo an Bord versteckt haben.«
»Ausgeschlossen, Sir.« Der Kapitän wusste, wie ein Angeber wie Whittler angeredet werden wollte, scheute sich aber nicht, seine Meinung zu sagen. »Eine Frau schafft es nicht ohne Hilfe über die Strickleiter, und wenn sie an Bord geklettert wäre, hätte sie einer meiner Männer gesehen. Sie ist nicht hier. Ich befürchte, Sie haben die Fahrt umsonst gemacht. Gute Nacht, Sir.«
Whittler verzog die Lippen. Er gehörte zu den Männern, die nur mit dem Mund lächelten. »Nicht so voreilig, Kapitän! Ich kenne diese Frau wesentlich besser als Sie und muss Ihnen leider mitteilen, dass ich ihr alles zutraue. Ich bin sicher, dass sie an Bord ist. Werden Sie mir helfen, nach ihr zu suchen?«
»Wie stellen Sie sich das vor?«, erwiderte Hall, immer noch bemüht, den ungebetenen Gast so schnell wie möglich wieder loszuwerden. »Wissen Sie, wie groß dieses Schiff ist? Selbst wenn ich die gesamte Nachtwache zusammenrufen würde, bräuchten wir mehrere Stunden, um in jedem dunklen Winkel nachzusehen, und ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass die Kabinen und Quartiere unserer Passagiere dabei tabu bleiben müssen. Es ist drei Uhr nachts. Wie kommt ein Manager der Canadian Pacific überhaupt dazu, nach einer Diebin zu suchen? Hat die Eisenbahn nichts anderes zu tun? Oder trauen Sie der North West Mounted Police diese Arbeit nicht mehr zu?«
Whittlers angedeutetes Lächeln verschwand. »Ich verbitte mir diese unqualifizierte Kritik, Kapitän! Aber wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich bin der Geschädigte. Clarissa Carmack hat mir nicht nur Geld gestohlen, sondern mich auch auf heimtückische Weise angegriffen, und ich habe deshalb niemals aufgegeben, nach ihr zu suchen. Wie Sie vielleicht wissen, hat die North West Mounted Police mit dem Goldrausch im Augenblick genug zu tun, und die Polizei in Vancouver ist mit einem Mörder beschäftigt, der sich im Rotlichtbezirk herumtreibt. Ich habe ihr deshalb zugesichert, sie tatkräftig zu unterstützen.« Er zog ein Blatt Papier aus seiner Manteltasche und hielt es ihm hin. »Der Haftbefehl«, erklärte er süffisant, »noch Fragen?«
Clarissa verkrampfte in ihrem Versteck. Wenn Frank Whittler auch einen oder mehrere Zeugen für einen tätlichen Angriff aufbieten konnte, so lächerlich das auch klang, war ihre Lage noch viel gefährlicher, als sie angenommen hatte. Dann drohten ihr nicht drei oder vier, sondern zehn oder mehr Jahre. Und wenn alles gegen sie lief, wanderte Alex wegen Beihilfe zum versuchten Mord ins Gefängnis. Wie konnte man nur so abgrundtief böse sein und sich so eine Anklage aus den Fingern saugen? Und wie gerecht war eine Welt, in der ein
Weitere Kostenlose Bücher