Clarissa - Wo der Himmel brennt
mit?«
»Ich hab dir doch gesagt … Ich muss die Witwe suchen.«
»Mitten … mitten in der Nacht?«
»Soll ich sie vielleicht da draußen herumirren lassen?« Clarissa reagierte barscher als beabsichtigt. Sie war nervös … und wütend auf sich selbst, weil sie Dolly allein bei ihrem toten Mann zurückgelassen hatte. »Und sag deinem Onkel, dass Dolly Kinkaid spurlos verschwunden ist und ich nach ihr suche. Wenn ihm sein Abzeichen irgendwas bedeuten würde, könnte er ja ein Aufgebot zusammenstellen und ebenfalls nach der armen Frau suchen.« Sie lächelte flüchtig. »Nein, lass den letzten Satz lieber weg, sonst bekommst du noch Prügel. »Aber sag ihm Bescheid, hörst du? Dolly kommt aus der Stadt und kennt sich in der Wildnis nicht aus. Ich will nicht, dass ihr was passiert.«
Er kletterte auf den Kutschbock und griff nach den Zügeln. Anscheinend stand er immer noch unter Schock. »Und Sie … Sie kennen sich in der Wildnis aus?«
»Ich bin mit einem Fallensteller verheiratet. Fahr endlich!«
Clarissa wartete, bis der Junge den Wagen gewendet hatte, und marschierte los. Vielleicht hatte Willie Dunn, der Ausrüster, der seine Waren angeblich preiswerter als andere Händler verkaufte, etwas gesehen. Wenn Dolly weiter der Straße gefolgt war, musste sie an seinem Haus vorbeigekommen sein. Oder wollte sie sich an ihm rächen, weil er an dem Verbrechen beteiligt war?
In ihrer Panik war die arme Frau sicher zu allem fähig. Der gewaltsame Tod ihres Mannes hatte sie in ein tiefes Tal der Tränen gestürzt, aus dem auch eine Frau wie sie nur mühsam herauskommen würde. Solange der Schmerz noch übermächtig war, würde sie ziellos in diesem Tal herumirren und in Kauf nehmen, dabei zu verhungern oder zu verdursten, sich in der unwegsamen Wildnis zu verirren oder von einem wilden Tier angefallen und getötet zu werden. Sie würde sich nicht einmal wehren, wenn sie einem Bären gegenüberstand, wahrscheinlich sogar froh sein, bald ihren Mann wiedersehen zu können.
Clarissa kannte dieses Gefühl. Vor zwei Jahren hatte Frank Whittler die Meldung verbreitet, seine Männer hätten Alex erschossen und in einen reißenden Fluss fallen sehen, und sie war lange Zeit in dem Bewusstsein durch die Wälder geirrt, ihren Mann für immer verloren zu haben. Auch sie war damals nahe daran gewesen, einfach aufzugeben und ihm zu folgen. Nur ihrem eisernen Willen und der Hoffnung, die niemals in ihr versiegt war, hatte sie es zu verdanken, dass sie gestärkt aus dieser Zeit hervorgegangen war. Sie würde Alex nicht aufgeben. Sie war immer noch fest davon überzeugt, dass er am Leben war und innerhalb der nächsten Tage in Skaguay auftauchen würde.
Wie tief Dolly in ihr Tal der Tränen hinabsteigen würde, wusste Clarissa nicht. Doch die Gefahr, dass sie in ihrer Panik ziellos in die Wildnis rannte und dabei ihr Leben riskierte, war groß, und Clarissa erkannte, dass sie die Engländerin so schnell wie möglich finden musste, wenn sie ein Unglück vermeiden wollte. Beide Hände in den Manteltaschen und den Kopf gegen den treibenden Schneeregen gesenkt, folgte sie der morastigen Straße nach Westen, dem nahen Waldrand entgegen. Um sie herum wirkte das Land einsam und verlassen. Obwohl die Lichter von Skaguay noch immer zu sehen waren und man sogar das Klimpern eines Walzenklaviers hören konnte, kam sie sich wie in der tiefsten Wildnis vor, meilenweit von der Zivilisation entfernt.
Zwischen den Bäumen verblassten die Lichter, und die schrägen Töne des Walzenklaviers blieben in der Dunkelheit zurück. Ihre Schritte auf dem verharschten Schnee waren wieder deutlich zu hören, und im nächtlichen Wind rauschten die Fichten. Gerade, als sie sich fragte, ob sie auf dem richtigen Weg war, sah sie eine Lichtung durch die Bäume schimmern, und nur wenige Minuten später tauchten die Umrisse eines Blockhauses im Schneeregen auf. Sie zögerte kurz, ging dann entschlossen weiter und umklammerte den Revolver in ihrer Tasche, als ein Hund vor dem Haus anschlug.
Hinter einem der Fenster flackerte eine Lampe auf. Die Haustür knarrte, und eine aufgebrachte Stimme rief: »Was wollen Sie? Ich hab geschlossen, verdammt! Außerdem verkaufe ich nur an gute Freunde. Also hauen Sie ab, Mister, oder ich blase Ihnen die Ladung meiner Schrotflinte in den Bauch!«
»Ich bin kein Mister und habe auch nicht die Absicht, etwas zu kaufen«, antwortete Clarissa und staunte über ihren Mut. Der Händler, der sicherheitshalber in der Deckung seiner Hütte
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