Clarissa - Wo der Himmel brennt
schon.«
Clarissa lief in die Stadt zurück. Inzwischen hatte es leicht zu regnen begonnen, eine Mischung aus Regen und Schnee, die wohl daran erinnern sollte, dass man in diesen Breiten auch im Frühjahr noch mit schlechtem Wetter rechnen musste. Der Schneeregen kam ihr gerade recht, um nach dem schrecklichen Fund wieder einigermaßen klar denken zu können. Den Kragen ihres Mantels nach oben geklappt, den Hut in der Stirn, und beide Hände tief in den Taschen, marschierte sie in die Stadt zurück. Aus der Ferne drang das Gejaule der Huskys an ihre Ohren, und irgendwo in den Wäldern heulte ein Wolf. »Bones«, flüsterte sie, »heute hätten wir dich gebraucht! Wo steckst du die ganze Zeit?«
Von Alex wusste sie, dass ein Wolf ungefähr fünfzehn Meilen am Tag zurücklegte, wenn er es eilig hatte, und Bones gar nicht in Alaska sein konnte, selbst wenn er auf die absurde Idee gekommen wäre, ihr in den Hohen Norden zu folgen. »Vielleicht hilfst du Alex. Braucht er deine Hilfe, Bones?« Wie gerne hätte sie eine Antwort von dem geheimnisvollen Wolf bekommen, doch es kam nichts, selbst das ferne Heulen war verstummt. Es war wohl doch so, wie Alex schon vor langer Zeit behauptet hatte: In der Wildnis war man ganz auf sich allein gestellt. Nur wenn man stark genug war, um den Gefahren zu trotzen, blieb man am Leben. Alex war stark genug, und doch blieb die Angst ihr ständiger Begleiter. Würde er für immer verschollen bleiben, und würde sie einmal Dolly beneiden, weil die wenigstens wusste, wo ihr Mann begraben lag? »Lass mich nicht im Stich, Alex!«
In der Stadt war selbst in einigen Saloons und Kneipen das Licht ausgegangen, und auf den Straßen trieben sich vor allem Betrunkene herum. Sie kümmerte sich nicht um die anzüglichen Bemerkungen, die einige der Männer bei ihrem Anblick lallten, und hielt geradewegs auf das Marshal-Büro zu.
Ohne anzuklopfen, trat sie ein. Zu ihrer Überraschung stand Marshal Tanner mit einem Kaffeebecher neben dem Ofen, vollständig angezogen, aber unrasiert und mit wirren Haaren. Er brummte missmutig. Sein junger Neffe saß am Schreibtisch und blinzelte nervös, als er Clarissa erkannte.
»Da sehen Sie, was Sie und Ihre Freundin angerichtet haben«, sagte Tanner. »Nachdem Sie gegangen waren, konnte ich nicht mehr einschlafen. Kommen Sie das nächste Mal tagsüber, wenn Sie eine Beschwerde haben.«
Clarissa ließ die Tür offen und scherte sich nicht darum, dass der Wind den Schneeregen ins Büro trieb. »Luther Kinkaid ist tot!«, sagte sie. »Der Mann, nach dem meine Bekannte gesucht hat. Ihr Mann wurde ermordet! Zu Tode geprügelt! Er liegt am Straßenrand, ungefähr eine halbe Meile westlich der Stadt. Wollen Sie sich jetzt um die Angelegenheit kümmern, Marshal? Oder behaupten Sie immer noch, der Mann würde irgendwann wieder auftauchen?«
»Das habe ich nicht gesagt, Ma’am.« Den Marshal schien die Meldung nicht besonders aufzuregen. »Ich habe nur gesagt, dass es in den meisten Fällen so ist.« Er betonte den letzten Satz. »Tut mir leid, was passiert ist, aber so ein Mord ist keine Seltenheit in unserer Stadt. Leider kriegen wir die Täter in den seltensten Fällen zu fassen. Die kanadische Grenze ist nahe, und bevor wir ihnen auf die Spur kommen, sind sie meist schon über alle Berge.«
»Soll das heißen, Sie wollen hierbleiben und Däumchen drehen?«
»Mir sind die Hände gebunden, Ma’am. Bis ich an den Tatort komme, sind die Mörder längst in Kanada. Ein besseres Versteck als unter den vielen Goldsuchern auf dem Chilkoot oder dem White Pass Trail gibt es doch kaum. Sobald sie ein Verbrechen begangen haben, setzen sich die Täter nach Kanada ab, das kennen wir schon, und brauchbare Spuren hinterlassen die meisten auch nicht. Selbst wenn wir die Täter fassen würden, könnten wir ihnen nicht das Geringste beweisen. Tut mir furchtbar leid, Ma’am, aber so ist es nun mal. Wir können froh sein, wenn wir hier in Skaguay einigermaßen Ordnung halten. Um die Gesetzlosen, die nach Kanada fliehen, muss sich die North West Mounted Police kümmern.«
Clarissa glaubte, einen spöttischen Unterton in der Stimme des Marshals auszumachen. »Ist das Ihre Art, mit Gesetzlosen umzugehen, Marshal? Sie versuchen nicht mal, sie zu fangen? Ich glaube kaum, dass die amerikanische Regierung mit diesem Vorgehen einverstanden ist.« Sie hätte gern noch mehr gesagt, ahnte aber, dass ihre Vorwürfe ohnehin zu nichts führen würden, und wollte Dolly nicht zu lange allein bei
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