Clark Mary Higgins
erklärte, daß sie sich verschiedene Persönlichkeiten zulegte, je nachdem, was für eine Rolle sie in ihrem kleinen Theater
gerade zu spielen hatte. »Zuletzt habe ich ein schwedisches
Zimmermädchen gespielt«, schloß sie, »und Joseph Pap eine
persönliche Einladung zur letzten Vorstellung gestern abend
geschickt. Mein Horoskop sagte, daß Saturn gerade im Steinbock steht und meine beruflichen Chancen sehr groß sind. Ich
hatte wirklich das Gefühl, daß er käme.« Sie schüttelte traurig
den Kopf. »Aber er ist nicht erschienen. Es ist überhaupt niemand erschienen.«
Gomez hustete heftig. O’Brien unterdrückte ein Lächeln.
»Das tut mir leid für Sie. Und jetzt, Tse-Tse – wenn ich Sie so
nennen darf?« Er begann damit, ihr Fragen zu stellen.
Die Befragung wurde zu einem Dreiergespräch, als Neeve erklärte, warum sie Tse-Tse in Ethels Wohnung mitgenommen
hatte, warum sie noch mal zurückgekommen war, um die Mäntel im Kleiderschrank zu inspizieren und Ethels Terminkalender
anzusehen. Tse-Tse erzählte von Ethels wütendem Telefongespräch mit ihrem Neffen vor einem Monat und von dem Geld,
das in der vergangenen Woche zurückgelegt worden war.
Um halb drei klappte O’Brien sein Notizbuch zu. »Sie waren
uns beide eine große Hilfe. Tse-Tse, wären Sie so gut, Miss
Kearney nachher in Ethel Lambstons Wohnung zu begleiten?
Sie kennen sie sehr gut. Vielleicht fällt Ihnen auf, ob irgend etwas fehlt. Kommen Sie bitte in einer Stunde mit hinüber. Vorher
möchte ich mich noch mal mit Douglas Brown unterhalten.«
Myles hatte die ganze Zeit mit gerunzelter Stirn in seinem tiefen Ledersessel gesessen. »Somit käme also ein habgieriger Neffe ins Spiel«, bemerkte er.
Neeve lächelte bitter. »Was könnte denn deiner Meinung nach
seine Visitenkarte sein, Commissioner?«
Um halb vier betraten Myles, Neeve, Jack Campbell und TseTse Ethels Wohnung. Douglas Brown saß auf dem Sofa, die
Hände nervös auf dem Schoß gefaltet. Mit unfreundlicher Miene
blickte er auf. Auf seinem hübschen, mürrischen Gesicht standen Schweißtropfen. Die Inspektoren O’Brien und Gomez saßen
ihm gegenüber mit aufgeschlagenen Notizbüchern. Tischflächen
und Schreibtisch waren unaufgeräumt und voller Staub.
Tse-Tse flüsterte Neeve zu: »Die Wohnung war blitzsauber,
als ich wegging.«
Neeve erklärte ihr leise, daß die Schmutzstreifen von dem
Pulver herrührten, das die Fingerabdruckspezialisten verstreut
hatten. Dann wandte sie sich mit ruhiger Stimme an Douglas
Brown. »Es tut mir schrecklich leid um Ihre Tante. Ich hatte sie
sehr gern.«
»Dann waren Sie eine der wenigen«, gab er unfreundlich zurück. Er stand auf. »Hören Sie zu, jeder, der Ethel kannte, wird
Ihnen bestätigen, wie sehr sie einem auf die Nerven fallen und
wie schrecklich anspruchsvoll sie sein konnte. Gut, sie hat mich
häufig zum Abendessen eingeladen. Ich habe dafür an etlichen
Abenden darauf verzichtet, mit meinen Freunden zusammenzusein, nur weil Ethel Gesellschaft haben wollte. Gut, sie hat mir
auch manchmal eine der Hundertdollarnoten zugesteckt, die sie
überall in der Wohnung verteilt hatte. Dann vergaß sie aber, wo
sie die anderen hingelegt hatte, und behauptete, ich hätte sie
genommen. Dann fand sie sie wieder und entschuldigte sich.
Das ist die ganze Geschichte.« Er starrte Tse-Tse an. »Was, zum
Teufel, soll denn diese Aufmachung? Haben Sie eine Wette abgeschlossen? Wenn Sie sich nützlich machen wollen, holen Sie
gefälligst den Staubsauger und fangen Sie an, hier aufzuräumen.«
»Ich habe für Miss Lambston gearbeitet«, sagte Tse-Tse würdevoll, »und Miss Lambston ist tot.« Sie blickte Inspektor
O’Brien an. »Was möchten Sie, daß ich tue?«
»Ich möchte, daß Miss Kearney uns eine Liste der Kleider
macht, die in Miss Lambstons Schrank fehlen, und ich möchte,
daß Sie sich ganz allgemein hier umsehen, ob sonst irgend etwas
fehlt.«
Myles wandte sich leise an Jack. »Wollen Sie nicht mit Neeve
rübergehen? Vielleicht können Sie Notizen für sie machen.« Er
selber setzte sich lieber auf einen Stuhl mit gerader Lehne in der
Nähe des Schreibtisches. Von dort konnte er gut die Wand mit
Ethels Fotogalerie sehen. Nach einer kleinen Weile stand er auf,
um die Bilder näher zu betrachten. Zu seiner Überraschung sah
er Aufnahmen von Ethel beim letzten Parteitag der Republikaner auf der Tribüne neben der Familie des Präsidenten; Ethel,
die den Bürgermeister von New York vor seiner Residenz umarmt;
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